Die Russell-Revolution (II)
Der zweite Teil unserer Geschichtsserie zu Bill Russell beleuchtet das Duell „Russ vs. Wilt“, die progressiven Boston Celtics und den politischen Akteur Russell.
Bill Russell gilt als der größte Gewinner im nordamerikanischen Profiteamsport. Auch ist er als Gründervater der NBA gefragt und generell eine hochgeachtete Persönlichkeit. Seine einst revolutionäre Wirkkraft kommt indes nur spärlich zur Sprache. Ein guter Grund, um einen Deep Dive zu unternehmen und ihn ganzheitlich zu würdigen. Der zweite von drei Teilen beleuchtet das Duell „Russ vs. Wilt“, die progressiven Boston Celtics und den politischen Akteur Bill Russell.
[zum ersten Teil der Russell-Revolution]
Russ versus Wilt
Schon bevor sich Wilt Chamberlain 1959 seiner Heimat-Franchise der Philadelphia Warriors anschloss, die drei Jahre später in die Bay Area übersiedelte, waren er und Bill Russell eng verbunden. Zumindest in der Vorstellung der Basketballöffentlichkeit, die dem Duell der beiden afroamerikanischen Center nicht ohne „Verwechslungen“ entgegenfieberte.
„I’d sure like to meet that Chamberlain“, äußerte Russell süffisant. „People have been calling me Wilt the Stilt ever since I got here.“
Als Russell das College 1956 in Richtung Boston verließ, galt Wilt bereits als die erste wirkliche Basketballberühmtheit der USA. Oftmals wurde der baumstarke, gewandte und 2,16 Meter große Ausnahmeathlet mit dem Schwarzen Celtic verglichen. Seine Rekrutierung und Entscheidung für die University of Kansas waren nationale Themen, er einer immensen wie konstanten Medienberichterstattung ausgesetzt.
Nicht nur Celtics-Boss Walter Brown hielt Chamberlain seinerzeit für eine „Bedrohung“ eigener dynastischer Bestrebungen als auch des Profispiels. So wurde vielerorts ernsthaft gefragt: „Can basketball survive Wilt Chamberlain?“ Denn mit seiner schieren physischen Präsenz, der spielerischen Überlegenheit und seinem individualistischen Ethos schien der „Big Dipper“ die NBA vor eine gewaltige Herausforderung zu stellen.
Am 7. November 1959 trafen der „College-Abbrecher“ (der in seinem Abschlussjahr für die Harlem Globetrotters spielte) und der Verteidigungsminister der Celtics erstmals aufeinander. Der Boston Garden war Monate im Voraus ausverkauft, die Schwarzmarktpreise und die Spannung stiegen.
Bereits zum Auftakt zeichnete sich das Muster ihrer zukünftigen Rivalität ab: Russell war Wilt physisch unterlegen, ungeachtet dessen er ihn unentwegt forderte – die Hände oben und körperlich dagegenhielt, den Ball weg schlug und Würfe erschwerte. Chamberlain sah sich erstmals mit solch einem agilen und athletischen Verteidiger konfrontiert, der ihn über 48 Minuten hartnäckig herausforderte, räumlich einschränkte und so zu ungewohnten Abschlüssen außerhalb seiner Komfortzone drängte. Zwar übertraf er Russell mit 30 zu 22 Zählern, doch brachte der Warrior nur zwölf seiner 38 Feldwurfversuche im Korb unter. Am Ende triumphierten die Kelten mit 115:106.
Jede Neuauflage ihres Duells bewegte die Basketballöffentlichkeit und generierte eine ungekannte Medienaufmerksamkeit. Dabei markierte Chamberlain in seiner Debüt-Saison ligaführende 37,6 Punkte und 27,0 Rebounds. Folgerichtig avancierte er zum „Rookie of the Year“, wertvollsten Spieler und Topscorer der NBA (danach sechsmal in Folge). Indes gewannen die Russell-Celtics gegen Wilts Warriors acht von dreizehn Saison- und vier von sechs Playoff-Spielen.
„Wilt Chamberlain may be fabulous, fantastic, and phenomenal, but Boston’s Bill Russell is solid“, konstatierte der heimische Boston Globe. „For that reason the Celtics are in the National Basketball Assn. final as defending champions.“
So besiegten sie in der Endspielserie 1960 wiederum die St. Louis Hawks um Bob Pettit und Cliff Hagan – für ihre dritte Meisterschaft in vier Jahren. Ein mehr als verlässlicher Russell legte hierfür während der regulären Saison (seiner offensiv vielleicht besten) 18,2 Zähler, 24,0 Bretter und 3,7 Vorlagen auf. In den Playoffs generierte der 26-Jährige im Schnitt 18,5 Punkte, 25,8 Abpraller und 2,9 Assists. Eindrucksvolle Kernwerte (alldieweil er fast durchspielte und wenig foulte), die er in den Endrunden der Folgejahre nochmals anhob.
Chamberlain forderte Russell – der in der Umkleide einmal weinte, weil ihm sein Rivale in einer Playoff-Partie 50 Punkte eingeschenkt hatte – gleichwohl mental und körperlich alles ab. Energieleistungen waren gefragt, um den „Dipper“ ansatzweise in Schach zu halten. Wobei der stolze Wettkämpfer feststellte, dass seinem Konkurrenten der nötige „Killerinstinkt“ fehlte und dieser mit der Bürde überzogener Erwartungen schwerlich umzugehen vermochte. Öffentlich klagte ein einsamer und empfindsamer Wilt über die aus seiner Sicht unfaire und überharte Behandlung auf und neben dem Parkett. Nach seinem Rookie-Jahr wollte er gar zurücktreten …
Russell schmierte seinem Gegenspieler, der in der Liga schnell als Egomane abgestempelt wurde und an Respekt einbüßte, hingegen Honig um den Bart und lobte ihn, wann er nur konnte. „He could be the greatest basketball player of all time“, bekundete der Abomeister, um später zu betonen: „Wilt is the greatest.“ Zumal er Chamberlain wiederholt auch einfachere Körbe erzielen ließ, um ihn und sein Ego zu besänftigen – während die Celtics die Spiele dann trotzdem gewannen.
Überdies pflegten die beiden Rivalen (Russell bevorzugt den Begriff „competitors“) eine enge Freundschaft, die der Entwicklung einer persönlichen Animosität entgegenstand. Warriors-Legende Al Attles, Chamberlains Freund und Teamkollege (1960-1965), fasste die Beziehung von Russell und Wilt wie folgt treffend zusammen:
They were rivals on the floor, but they weren’t rivals off the floor. They were so close that when we went to Boston, Russ would meet us at the airport, regardless of what time we got in and he’d take Wilt to his house to stay. We’d go to the hotel and Wilt would go over to Russ’s house. He’d sleep at Russ’s house and then the next morning, he’d get up and they’d eat and have breakfast. Russ would bring him to the game and we used to joke about it. ‘Russ picks you up at the airport, takes you to his house, feeds you, you sleep there, he brings you to the game that night and then they beat us.’
Wenn es darauf ankam, konnten die Russell-Celtics meist mit der höheren Wettkampfintensität und Siegesgewissheit aufwarten, die Red Auerbach als ein Meister der Menschenführung geschickt aus ihnen herauskitzelte – aller Ermüdung zum Trotz. Denn wie Attles herausstellte, waren die vielen Aufeinandertreffen zehrend: „We used to play them 20 times a year, counting playoffs and preseason and regular season. You’d really get tired of playing against that team all the time.“
In zehn Jahren (1959-1969) trafen die beiden Center sonach 143 Mal aufeinander. 86 Mal gewannen die Celtics. In der Saison 1961/62 allein traten sie in 19 Partien gegeneinander an. Zwölf Mal mussten sich die Warriors geschlagen geben.
Derweil gab das Duell „Russ versus Wilt“ der Association nachhaltig Auftrieb und hauchte dem Profispiel neues Leben ein. „Never before have so many people taken an active interest in professional basketball“, vermerkte das Monatsmagazin SPORT 1960. „Suddenly, housewives and college coeds who generally avoid athletic events with a passion are taking sides in this battle between the giants. The names of Chamberlain and Russell have given new life to the game, even to the world of sport.“
Die Berichterstatter verfielen dabei meist in eine vereinfachte wie verfehlte Typisierung, die sich leicht verkaufen ließ und bis heute nachwirkt: Russell, der teamorientierte Gewinner, gegen Chamberlain, den überdominanten Einzelkönner, der ehrfurchtgebietende Statistiken (1961/62 50,4 Punkte pro Partie) und einzigartige Individualleistungen ablieferte (1962 ikonische 100 Punkte; 1960 55 Rebounds gegen Russell).
Ohnehin erhöhte „Goliaths“ Großartigkeit das engagierte Gegenhalten seines Rivalen und dessen Geltung. „[If not for Russell], the game of basketball would right now be being slowly digested by Wilton Chamberlain, a public monument somewhere between Mt. Rushmore and the Empire State Building“, gab der angesehene Sportjournalist Jim Murray (L.A. Times) zu verstehen.
Und auch NBA-Profis und -Coaches befeuerten das in puncto Spielweise, Auftreten und Verhalten gezeichnete Portrait der Gegensätzlichkeiten. Russell wurde hierbei als das Spiel prägender intelligenter Teamplayer favorisiert. Seine Präsenz und psychologische Wirkung auf Gegenspieler seien einmalig, bekannten Bob Pettit und Jerry West.
Russell selbst sah sich als ballspielender Schachtaktiker, der Partien kontrollierte und seine Kontrahenten bemeisterte. Seine Mitspieler priesen ihn als beispielhaften Kameraden, der sie deutlich besser mache. Wilt halte seine Nebenmänner dagegen selbstzentriert dazu an, sich seinen Talenten und Launen anzupassen. Auerbach behauptete zudem: „[Chamberlain] has not had the profound effect on the thinking and theories of professional basketball that Russell had as a rookie. The NBA was prepared for Chamberlain by the advent of Russell.“
Der Schwarze Kelte fungierte in diesem Spiel der Kontraste als respektierter Werteträger (Basketball-IQ, Teamwork, Hustle), während der „Big Dipper“ als eindrucksvolle, aber einzuhegende „Naturgewalt“ mit menschlichem Makel (übergroßes Ego, Starrsinn, Wankelmut) wahrgenommen und dargestellt wurde. Nicht zuletzt weil Wilt die Ängste des Basketball-Establishments, ja der weißen Mehrheitsgesellschaft, vor Schwarzer „Überdominanz“ und Individualität verkörperte. Ironischerweise war ein in diesem Vergleich weißgewaschener Russell abseits des Spielfeldes durchaus eigensinnig, selbstbestimmt und Chamberlain zugetan …
Rückblickend schätzte Russell die zahlreichen wie kontrastreichen Zuschreibungen zutreffend ein: „I can’t think of any two players in a team sport who have been cast as antagonists and as personifications of various theories more than Wilt and I were. Almost any argument people wanted to have could be carried on in the Russell vs. Chamberlain debate, and almost any virtue and sin was imagined to be at stake.“
Auf dem Hartholz bestach Russell aber eben als mustergültiger Arbeiter und smarter Teamspieler – der weiterhin als Gewinner und Dynastieträger das Finals-Parkett verließ. 1961 schickten die Celtics erneut die Hawks (in fünf Spielen) nach Hause. 1962 und 1963 entschieden sie die Meisterschaft, nun gegen die 1960 nach Los Angeles abgewanderten Lakers um Elgin Baylor und West, wiederholt für sich.
Russell legte über beide Finalserien im Schnitt 21,5 Zähler, 26,5 Rebounds und 5,5 Assists auf. 1962 entschied er Spiel sieben mit einer grandiosen Performance von 30 Punkten und 40 Rebounds. Dreimal in Folge (1961-63) wurde er von seinen Kollegen als Liga-MVP ausgezeichnet.
Chamberlain zog derweil in statistischer Hinsicht an der Spitze einsam seine Kreise, 1962 mit den Warriors nach San Francisco um und 1964 erstmals in die Finals ein. Gegen die Überlegenheit der tief besetzen Celtics (sechs Akteure punkteten zweistellig) halfen aber auch seine 29,2 Punkte, 27,6 Rebounds und imposanten Ringbeschützer-Qualitäten relativ wenig. Mit 4-1 triumphierten die Kelten über die Krieger, die mit Aufbau Guy Rodgers und Big Man Nate Thurmond zwei weitere zukünftige Hall of Famer in ihren Reihen hatten.
Indes sei betont, dass das Wilt angeheftete Verlierer-Image viel zu kurz greift. Denn er und sein Rivale ko-initiierten eine stilistische Veränderung des Center- und Profispiels, die sich anhand der Beschleunigung, Athletisierung sowie anfänglichen Nutzung vertikaler Möglichkeiten anschaulich zeigte. Als kreative Agenten haben Russ und Wilt an der Umformung des Sports und der Basketballkultur großen Anteil. Eine Errungenschaft, die viel mehr als Meisterschaftserfolge zählen sollte.
The Green (Family) Machine
Apropos Erfolg. 1965 und 1966 bezwangen die Russell-Celtics wiederum die leidgeprüften Lakers. Acht Finaltriumphe in Serie und neun Titel in zehn Jahren lautete ihre unwirkliche Erfolgsbilanz. Jedes Jahr bewiesen sie die Grandeur der „grünen Maschine“, die mit neuen Lobreden über unerreichten Tempo- und Teambasketball, exemplarische Kultur, knallharte Verteidigung und exzellente körperliche Verfassung bedacht wurde.
Boston verkörperte für viele modernen Basketball und erstrebenswerte Werte. „The Celtics were always kind of America’s team“, bedeutete Trainerlegende Don Nelson, der von 1965 bis 1976 für Boston auflief. „You either hated ‚em or you loved ‚em, but you respected ‚em and you followed ‚em, and when they were on, everybody wanted to watch because they knew it was good basketball.“
Nachdem Spielmacher Bob Cousy 1963 zurücktrat und „Kettenhund“ K.C. Jones zum Starter avancierte, setzten die Kelten verstärkt auf ihre Teamverteidigung und defensive Härte als Erfolgsgaranten. Schließlich konnten sie neben dem seinerzeit wohl besten Außenverteidiger die defensiv befähigten Flügelspieler Tom „Satch“ Sanders und John Havlicek, genannt „Hondo“, aufbieten.
Gemeinsam forcierten sie Fehler und drängten Ball und Gegner in die Zone, wo Russell als Ringbeschützer und Rebounder regierte. Als Motor der „grünen Maschine“ warf er den Fastbreak an, auf dem die Offensive basierte. Im Halbfeld kamen sieben Grundspielzüge hinzu, die das überschaubare, aber wirkungsvolle Repertoire vervollständigten.
Dafür mussten alle Spieler stets in Bewegung und bereit zum Abschluss sein. Als spielintelligenter Offensivakteur koordinierte Russell dabei seine rochierenden Nebenmänner und überzeugte beständig als Blocksteller, Passgeber sowie generell mit einer guten Entscheidungsfindung. Nach seiner Rookie-Saison war er in jedem Jahr mindestens der zweitbeste Ballverteiler der Celtics (4,3 Assists pro Partie, 4,7 in den Playoffs) – während er zunehmend als Point Center agierte (1966/67 teamführende 5,8 Vorlagen).
Dennoch wird Russells Angriffsspiel oft noch immer unterbewertet. Schließlich war er kein nennenswerter Werfer (44,0% FG, 56,1% FT) und ein limitierter Korbjäger, der vor allem auf seine Hook Shots setzte.
Zugleich war der hyperathletische Big Man seinerzeit einer der ersten NBA-Profis, die den Dunk als primäre Offensivwaffe einzusetzen verstanden. Im Zuge von direkten Anspielen und verwerteten Abprallern sowie im Schnellangriff erhob der laufstarke und sprunggewaltige Finisher den Druckkorbleger sonach zur legitimen Option. Russell konnte dabei nach dem Rebound durchaus „from coast to coast“ gehen …
Abgesehen von Flügelspieler Sam Jones, der als nervenstarker „Shotmaker“ offensiv übernehmen konnte, rangierte kaum ein Celtic unter den zehn besten Scorern der Liga (Jones gelang dies in den 60ern viermal). Ohne einen begnadeten Eins-gegen-eins-Spieler bestachen sie vielmehr als Team, das beständig die meisten Rebounds sammelte.
So verlangte Coach Auerbach von seinen Männern konstant defensive Einsatz- und Opferbereitschaft. Selbstlosigkeit und Hingabe wurden im Kelten-Kollektiv groß geschrieben und durch die Spieler willig ausbuchstabiert. Auerbach respektierte sie und vertraute auf ihre Erfahrungen und Expertisen. Im Huddle und Training schlugen die Profis strategische Anpassungen oder defensive Matchups vor. Auf dem Parkett versahen sie die sieben Basisspielzüge durch ihre selbstbestimmte Entscheidungsfindung mit zahlreichen Varianten und Ausstiegen. Daher gründete die ungemeine Wettbewerbsstärke der Celtics nicht zuletzt auf ihrem kultivierten demokratischen Zusammenspiel.
Das öffentlich etablierte Image einer Vorzeigefamilie fußte wiederum auf ihrer erfolgreichen und effizienten Teamarbeit. „This group of athletes has developed a pride in performance the equal of any sports team ever assembled“, belobigte der Boston Herald die Russell-Celtics. „It has meshed individual ability into cooperative effort to acquire winning consistency beyond anything ever established.“
Teambesitzer Walter Brown übernahm dabei bis zu seinem Tod (er verstarb 1964) die Rolle des gutmeinenden Oberhauptes – Auerbach die des machtbewussten und meinungsstarken Spiritus Rector. Russell erschien als Familienmensch; frühzeitig (1956) hatte er seine College-Freundin Rose Swisher geheiratet, mit ihr drei Kinder (Karen, William Jr., Jacob) bekommen und in der weißen Vorstadt (Reading, MA) ein Haus bezogen.
Nicht selten traten die „Spielerfrauen“ gemeinsam in der Öffentlichkeit auf. Zumal im Kelten-Kader einnehmende Kameradschaft und Konstanz vorherrschten: Auerbach tradete während Russells dreizehnjähriger Ägide nur einen einzigen Rotationsspieler (Big Man Mel Counts). Ansonsten leiteten die mit erfolgshungringen Veteranen verstärkten Routiniers die Rookies an, die dann später eventuell ihre Starterpositionen übernahmen und als Komplementärspieler das Kollektiv stärkten. (Wohlgemerkt existierte in der NBA seinerzeit noch keine Gehaltsobergrenze, während eine restriktive Free Agency vorherrschte.)
Darüber hinaus brach die Celtics-Familie „Rassenschranken“ auf. 1950 draftete Auerbach Chuck Cooper und erhob ihn damit zum ersten Schwarzen NBA-Spieler. Don Barksdale (siehe folgender Beitrag), der zweite Schwarze Celtic und 1953 der erste afroamerikanische All-Star, hatte Russell einst davon überzeugt, dass die Celtics eine progressive Franchise seien. „Walter Brown and Auerbach, they’re really good people“, erinnerte er sich an die Zusicherung von Barksdale.
So gingen Afro- und Euroamerikaner bei den Celtics professionell und teils persönlich miteinander um. In den USA der 50er und 60er Jahre beileibe keine Selbstverständlichkeit.
Als zunächst einziger Afroamerikaner im Team (Barksdale war 1955 zurückgetreten) agierte Russell als Vorkämpfer, der sich anfangs noch distanziert zeigte – daraufhin aber den Kontakt zu Teamkollegen suchte, Freundschaften entwickelte und mit Coach Auerbach ein Vertrauensverhältnis pflegte. Dieser war eigenwillig und weitsichtig genug, um weitere Schwarze Profis zu den Celtics zu holen, die allmählich größere Spielanteile übernahmen und angeführt von Captain Russell (ab 1963) die Liga dominierten.
Die „Jones Brothers“ ersetzten im Backcourt Cousy und Bill Sharman; im Frontcourt startete „Satch“ Sanders für Heinsohn (der 1965 abtrat). Auch schloss sich Veteran Willie Naulls dem Team an. Sonach stellte Boston im Dezember 1964 als erste Franchise eine ausschließlich Schwarze Erste Fünf. 1965/66 bot Auerbach über die komplette Spielzeit eine afroamerikanische Startaufstellung auf.
„The club offers a lesson in human relations“, pointierte der Boston Herald. „They serve a vital community function demonstrating integration in action.“ Dick O’Connell, seinerzeit Manager der Boston Red Sox, schloss an: „There’s a team over there in Boston Garden made up of blacks and whites, Catholics and Protestants, coached by a Jew, and they’ve been world champions for a long time now.“
Während die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung seit den 50er Jahren die Aufmerksamkeit der weißen Mehrheitsgesellschaft erzwang, übten die Celtics also ein egalitäres soziales Miteinander ein.
Russell ging dabei couragiert voran und verkörperte den Geist der Bewegung beispielhaft. Als das Team 1961 im Rahmen der Saisonvorbereitung in Marion, Indiana, weilte und in einer Bar nicht alle Spieler bedient wurden, führte er die komplette Mannschaft zur Beschwerde aufs Polizeirevier und zum Bürgermeister. (Dieser hatte ihnen zuvor den Schlüssel zur Stadt überreicht.)
Eine Woche später gastierten die Celtics für eine Partie gegen St. Louis in Lexington, Kentucky, wo Jones und Sanders der Service versagt blieb. Als dies Russell zu Ohren kam, buchte er umgehend den nächsten Heimflug – alle Schwarzen Celtics und Hawks folgten seinem konsequenten Beispiel. Medial wurden derweil Geldstrafen und Spielsperren für die „aufsässigen“ Afroamerikaner eingefordert …
Politischer Athlet und Aktivist
Als zu Beginn der 60er Jahre Massenproteste für Bürger- und Menschenrechte vorherrschten, war Russell in der afroamerikanischen Graswurzelbewegung aktiv. Im Mai 1963 führte er einen Demonstrationszug von Roxbury (dem „schwarzen Herz“ der Stadt) zum Boston Common, wo eine große Kundgebung abgehalten wurde. Drei Monate später nahm er am „March on Washington“ teil, welcher in der berühmten „I Have a Dream“-Rede von Martin Luther King Jr. vor dem Lincoln Memorial kulminierte. Russell bezog dabei im Hintergrund Stellung. Die Einladung auf dem Podium zu stehen, hatte er bescheiden ausgeschlagen.
Im Juni 1963 war Russell nach der Ermordung von Bürgerrechtler Medgar Evers nach Jackson, Mississippi, gereist. Dort leitete er ein Basketballcamp, an dem Schwarze und weiße Kinder erstmals gemeinsam teilnahmen. Nach seiner Rückkehr nach Boston prangerte er die im tiefen Süden an Aktivisten verübten rassistischen Gewalttaten und unaufgeklärten Morde öffentlich an.
Zu einer lebensgefährlichen Zeit, in der sich die meisten Profisportler von Formen offenen politischen Protests distanzierten, zeigte Russell Haltung, trat für seine Überzeugungen und für andere ein. Er nutzte seine Bekanntheit, die er im als apolitisch verklärten Sport erworben hatte, um sozialen Wandel anzuregen. „I‘d rather die for something than live for nothing“, betonte Russell seinerzeit.
Die afroamerikanische Presse feierte und verteidigte seine übersportliche Einflussnahme, an der nicht wenige US-Bürger Anstoß nahmen.
Derweil ging er für sein Land auf sogenannte „Goodwill Tours“. Im Zuge des Kalten Krieges schickte das US-Außenministerium afroamerikanische Athleten und Entertainer um die Welt, um das Ansehen eines „chancenreichen“ und „freiheitlichen“ Amerikas international zu bebildern und befördern.
So war Russell 1959 in Westafrika unterwegs, wo er auch eigenen Interessen nachging und in Liberia (einem Staat, den einst befreite amerikanische Sklaven gegründet hatten) eine Kautschukplantage erwarb. Die US-Medien belobigten ihn für diese kapitalistische Initiative und seine Beiträge in Übersee. 1964 führte er zudem eine All-Star-Auswahl an, die wohl gebrieft in Europa Station machte und dort (u.a. in Polen und Jugoslawien) „demokratische Basketball-Aufbauarbeit“ leisten sollte.
Während der Hochphase der Bürgerrechtsbewegung verkörperte Russell die Ziele und Erfolge seiner Generation: grundlegende Gleichberechtigung und gesellschaftliche Teilhabe. Als Anführer der Abomeister aus Boston, Gewinner gegen „Goliath“ (Chamberlain), Vorzeige-Teamplayer und Familienmensch sowie als gesellschaftspolitisch engagierter Botschafter des guten Willens erschien er als eine Ikone der Integration. Doch vermittelte er zugleich den Eindruck eines unbeugsamen Nonkonformisten, der sich eben nicht wie andere aufgrund von sozialem Druck oder zugunsten des Massenanreizes einfügte und unterordnete. Russell brach mit Erwartungen und durchbrach Grenzen; selbst- und gesellschaftskritisch hinterfragte er das Erreichte.
Seinen eigenen hohen Erwartungen, auch geprägt durch den Aufbruch der Bürgerrechtsbewegung, wurde Russell dabei kaum gerecht. „Until today my life has been a waste“, erklärte er 1962, um ein Jahr später zu ergänzen: „I consider playing professional basketball as marking time, the most shallow thing in the world.“
Der große Gewinner war rastlos und oftmals schlaflos, er erwog seinen Selbstwert und strebte abseits des Parketts nach Selbsterfüllung. Denn dort verblieb er, aller Erfolge zum Trotz, ein Schwarzer Mann in einer rassistischen Gesellschaft, die er zu verändern suchte.
Als Reaktion darauf ging Russell selbstbewusst auf Konfrontationskurs. Im Umgang mit Freunden und Mitspielern zeigte er sich oft gesellig, warmherzig und humorvoll – inklusive seines ansteckenden, meckernden Lachens.
Der Öffentlichkeit gegenüber trat er hingegen abweisend und unterkühlt auf. „With a kingly arrogance“, wie es All-Star und Kurzzeitkollege Carl Braun formulierte. Die von Schwarzen Athleten erwartete Dankbarkeit, damals auch Unterwürfigkeit, forderte Russell schonungslos heraus: „I’m a man. If I have to be a boy to be popular, then I don’t want it. If my popularity depends on a thing like this, I don’t give a damn.“
(Kareem Abdul-Jabbar beschrieb die vorherrschende Erwartungshaltung später so: „If you wanted to maintain a successful career, you kept your dark head down, mouth shut, and occasionally confirmed how grateful and blessed you felt.“)
Besonders Autogrammwünschen erteilte Russell als Teil des von ihm verachteten Promi- und Starkults eine unsanfte Absage. Zumal er in der Huldigungspraxis rassistische Untertöne ausmachte. Daher tat er seinerzeit kund: „You owe the public the same thing it owes you. Nothing!“
Russell weigerte sich, das Stereotyp des freundlich-naiven, freudestrahlenden Schwarzen zu bespielen – damit sich Weiße wohl und geehrt fühlten. „I’m not going to smile if I don’t feel like smiling and bow my head modest.“ Denn er wollte sich in keiner Weise vereinnahmen, als sogenanntes „Spielermaterial“ besitzen oder nur als Athlet bejubeln lassen. Vielmehr suchte er als Akteur, Bürger und Mensch, ausgestattet mit gleichen Rechten und Befähigungen, nach Anerkennung. Auch als Stellvertreter der afroamerikanischen Bevölkerung, der er sich verpflichtet sah.
Im Gleichschritt mit zu marschieren, auf das Entgegenkommen und Wohlwohlen der Mehrheitsgesellschaft zu hoffen, war Russells Sache nicht. So hinterfragte er das vorherrschende Mantra des gewaltlosen Protests: „If you never really express dissatisfaction concretely, people tend to ignore it. This passive kick – if it doesn’t work, how can they preach it? … If Martin Luther King is wrong he has failed as a leader.“
Überdies nahm er die separatistische afroamerikanische Nation of Islam (NOI) in Schutz, die dem weißen Amerika genauso ein Gräuel war wie der originäre GOAT, Muhammad Ali. 1964 traf Russell den ikonischen Boxweltmeister, der Mitglied der NOI und einst von Malcolm X angeleitet worden war.
Russell teilte den Fokus der NOI, der nicht zuletzt auf Bildung und sozioökonomischer Ermächtigung lag. Derweil wies er deren Doktrin der Verteufelung des „weißen Mannes“ zurück, wobei er den Aufruf zu Schwarzem Stolz im Sinne von Black Power bejahte. „I dislike most white people because they are people“, gab der Schwarze Individualist unumwunden zu Protokoll. „I like most black people because I am black.“
Außerdem hatte Russell seine ungeliebte Wahlheimat stets im Blick. Bostons afroamerikanische Community war in den 50ern und 60ern angewachsen, blieb aber auf Roxbury und Teile vom South End beschränkt. Innerhalb der stark segregierten Stadt herrschte zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen eine massive Feindseligkeit vor.
Russell hatte im South End investiert und dort ein Restaurant („Slade’s“) eröffnet. 1963 war er im Rahmen des Protests gegen „rassengetrennte“ Schulen als Gastredner aktiv. Es wurden politische Workshops veranstaltet; Russell sprach in Kirchen und Gemeindezentren über Bildung und Schwarzen Stolz. Drei Jahre später, an einer Junior-High-School in Roxbury, verlieh er der sich in vernachlässigten Schwarzen Vierteln zusehends entladenden Wut Ausdruck: „The fire that consumes Roxbury consumes Boston. The fire will spread.“
Vehement prangerte Russell das Sozialklima in Beantown wiederholt an. „A poisoned atmosphere hangs over this city“, pointierte er 1966. „It is an atmosphere of hatred, mistrust, and ignorance.“
Auch der Boston Garden, wo durchaus üble Bemerkungen fielen, war davon nicht ausgenommen. Die lokalen Sportjournalisten würden Schwarzen Athleten einen gesonderten Verhaltenskodex abverlangen, so Russell. Zumal die Bostoner Sportfans ihn und das „zu schwarze“ Team nie wirklich annahmen, nicht wie die Bruins oder Red Sox ins Herz schlossen.
Schließlich spielten die Abomeister der Celtics durchschnittlich vor 8.406 zahlenden Zuschauern, in einem nicht mal zu 60 Prozent ausgelasteten Garden. „We did a survey about what we could do to improve attendance“, rekapitulierte Russell. „Over 50% of the responses were ‘there’s too many black players’. The Celtics, to me, were a blue team in a sea of red. That means there was really no connection for me between the fans in Boston and the Boston Celtics.“
Derweil integrierte Russell mit seiner Familie den weißen Vorort Reading; weil er es konnte und ein Zeichen setzen wollte. 1963 gab das Städtchen ihm zu Ehren ein Festessen, was ihn sichtlich rührte. Gleichwohl zirkulierte eine Protestpetition, als die Familie innerhalb der Stadtgrenzen in eine andere Nachbarschaft umziehen wollte. Es wurde in das Haus der Russells eingebrochen, das N-Wort an die Wände gesprüht und weiterer Sachschaden angerichtet, der hier nicht ausbuchstabiert sei.
Rückblickend charakterisierte Russell Boston als „the most rigidly segregated city in the country“. 1969 verließ er Reading und Beantown nach seinem Karriereende prompt gen Westküste. (In den 40ern und 50ern war der gebürtige Louisianian in der kalifornischen Bay Area aufgewachsen; seit den 70er Jahren lebt er im pazifischen Nordwesten unweit von Seattle).
Als politischer Akteur war Russell weder ein Schwarzer Separatist noch ein Berufsrevolutionär – jedoch ein meinungsstarker Mann mit Gerechtigkeitssinn und Sendungsbewusstsein, der unbequeme Wahrheiten artikulierte und nicht leicht zurückschreckte. „We have got to make the white population uncomfortable and keep it uncomfortable, because that is the only way to get their attention“, insistierte er 1964 in der Saturday Evening Post.
Sportbezogen rügte er darin afroamerikanische Athleten, dass sie hinsichtlich ihrer öffentlichen Äußerungen in einem „popularity contest“ als Marionetten mitspielen würden. Die inoffizielle Absprache zwischen den Teams, die die Anzahl Schwarzer NBA-Profis in „Rücksichtnahme“ auf die weiße Fanbasis lange Zeit begrenzte, war ihm ebenso ein Ärgernis. „Two or three of the top guys have to be white“, stellte er kritisch heraus. „Most sports, even these days, are looking for the White Hope.“
Russells Aktivismus, der auf Chancengleichheit, soziale Anerkennung und Selbstbestimmung abzielte, erregte nicht nur Anstoß, sondern auch Bewunderung. Bei Schwarzen Kollegen wie Oscar Robertson, der beklagte, dass der Mainstream ihn nicht als Menschen (intelligent, humorvoll, strebsam, etc.) wahrnehme. Bei Nachwuchsspielern wie Lew Alcindor (heute Kareem Abdul-Jabbar), der Russell ob dessen Haltung und Selbstachtung als Heranwachsender verehrte.
Oder bei Hall of Famer John Thompson, der über zwei Spielzeiten als Russells Backup agierte und später als Erfolgscoach die Center-Schule der Georgetown Hoyas begründete. „I always felt safe around Russell as a black person“, erinnerte Thompson. „The way he carried himself was reassuring to me. He came closest to any man I ever met at living at his own terms.“
Russells verbale Offenheit generierte unterdessen auch Missmut und Entrüstung. 1964 blieb dem 30-jährigen Abo-MVP der neuerliche Award wohl nicht ganz zufällig versagt. Er glaubte seinerzeit, dass sich die NBA und nicht wenige Spieler von ihm distanzierten, weil sie ansonsten Nachteile für sich befürchteten. Selbst einige ihm wohlgesinnte Journalisten rangen mit seiner für sie unwirschen Art. „I felt betrayed by a man I had admired openly, typographically, from the day of his first Celtics‘ press conference, for what I suspected was his enormous dignity, intelligence and manly qualities“, bekundete Jerry Nason vom Boston Globe.
Milton Gross, Kolumnist der New York Post, verglich Russell mit einem forschen Muhammad Ali, der schon bald als Prototyp des Schwarzen Athleten und als Posterboy der aufkommenden Black-Power-Bewegung galt. O-Ton Ali: „I am America. I am the part you won’t recognize. But get used to me. Black, confident, cocky; my name, not yours; my religion, not yours; my goals, my own. Get used to me.“
Gleichzeitig blieb Russell relevant und respektiert; er als kämpferischer wie komplexer Charakter sicht- und hörbar. Auch weil der Teamspieler mit den Celtics den Ballsport weiterhin so eindrucksvoll dominierte.
Denn wer sonst konnte mit solch einer einschüchternden physischen Präsenz und erstickenden Verteidigungsarbeit auftrumpfen? (In elf seiner dreizehn Spielzeiten führte er die Liga bei den defensiven Win Shares an; 42,3 Minuten stand er allabendlich auf dem Hartholz.)
Manche Beobachter und Beteiligte sprachen gar von einer bei Angreifern ausgelösten „Russellphobia“. Entsprechend erfolgreich spielte der Großmeister Psychospielchen, „lenkte“ er seine Gegenspieler und durchkreuzte ihre Gewohnheiten.
So erschien der Celtics-Captain als mythische Gestalt, die vor allem bei jüngeren (Schwarzen) Spielern Bewunderung und Ehrfurcht entfachte. Veteranen und Coaches beriefen ihn bereits 1961 in ein All-Time Team. 1964 benannte ihn die Sporting News als größten Gewinner aller Zeiten. „He is Bill Russell and he owns the game of basketball as no one ever will again“, schrieb Jim Murray 1965.
Am Montag, dem 20. Juli, folgt der dritte Teil der Russell-Revolution.