Seiten aus dem Playbook: ALBA BERLIN unter Aíto
„Die Kreativität von Aíto ist besonders“, sagt Niels Giffey über seinen Trainer. Nach drei Jahren bei ALBA BERLIN ist es Zeit, einen Blick in das Playbook der spanischen Trainerlegende zu werfen: auf Set-Plays, wiederkehrende Elemente und defensive Prinzipien.
Ruhe treibt zur Eile,
Tanz um einen Block.
„Fordern heißt auch Fördern“,
weiß der Albatros.
Wenn Thomas Päch sagt, „Aíto ist ein Künstler“, dann mag es naheliegen, eine Analyse über Aítos Basketball bei ALBA BERLIN mit Versen zu beginnen. Seit drei Jahren sitzt der 73-jährige Spanier nunmehr auf dem Trainerstuhl des Hauptstadt-Clubs, und er sitzt wortwörtlich. Sitzt ruhig, in sich gekehrt, meist beobachtend, statt an der Seitenlinie auf- und abzulaufen, als könne er so seine Mannschaft mehr pushen. Das tun sein Spieler in Form von Fastbreaks dennoch so stark wie wenig andere Teams.
Transition in doppelter Hinsicht: Der Übergang zu einer neuer Kultur wurde mit der Verpflichtung Aítos im Sommer 2017 beschleunigt und hat sich bei den Albatrossen etabliert.
Aíto lehrt seinen Spielern Entscheidungsfindung – sie werden demnach gefordert, selbst ein Spiel zu lesen. Selbst Nachwuchsakteure werden derart in Verantwortung gezogen. Das dient der Entwicklung zum selbst-denkenden, statt nur ausführenden Basketballer – Spieler werden demnach gefördert.
Zum ersten Mal ein Engagement außerhalb seiner Heimat Spanien angetreten, zeigt sich nun auch in Berlin und in der BBL, dass Aítos Mannschaften „keine sind, die physisch andere Teams zerstören“, weiß Päch, der unter Aíto zwei Jahre lang als Assistant Coach gearbeitet hat. „Es sind immer Teams, die ansehnlich und sauber spielen. Aíto ist ein Künstlertyp.“
Nach drei Jahren ist es Zeit, sich dieser Kunst zu nähern – und einen Blick in das Playbook des spanischen Maestros zu werfen. Gerade in diesem Jahr, wo Aítos Methoden auch zum Erfolg in Form von Titeln geführt haben: In sieben von acht möglichen Finals standen die Berliner unter Aíto, mit der Deutschen Meisterschaft und dem BBL-Pokalsieg gab es 2020 endlich die ersten beiden Titel zu feiern.
Das freie Spiel Berlins ist schon häufig thematisiert worden. Doch zum einen kann dies nur funktionieren, wenn Spieler bestimmte Elemente verinnerlicht haben. Und zum anderen lassen sich durchaus wiederkehrende Spielzüge im System Aítos beobachten: sowohl im Halbfeldangriff als auch nach Einwürfen. In dieser Analyse soll auch die Verteidigung – ein nicht minder wichtiger Faktor für den Berliner Erfolg, da auch so vielseitig – skizziert werden.
Berlins Offense: ballferne Blöcke und Flex-Action
Das freie Spiel unter Aíto erklärte Thomas Päch, kurz nachdem er seinen Job bei den Telekom Baskets Bonn angetreten hatte, wie folgt: „Es sind oftmals auch keine Plays, sondern Einstiege: ein einzelner Down-Screen oder Cross-Screen. Aber dazu gehören ganz viele Details: Wo muss ich stehen, um den Pass zu spielen? Wohin muss ich passen? Wie muss ich diesen Pass spielen?“, schneidet Päch die Perfektion an, die es – trotz oder gerade wegen vermeintlich weniger vorgegebener Plays – zu beherzigen gilt. „Ich glaube, in den ersten vier Wochen hatten wir bei Aíto ein Play – und dieses bestand aus einem Screen“, setzt Päch fort.
Element: ein Pin-Down
Immer wieder ist zu beobachten, dass die Berliner Offensive nach nur einem einzigen Screen einen effizienten Abschluss zu generieren weiß. Folgendes Video zeigt, wie ein Berliner Flügelspieler nach nur einem Pin-Down bzw. Down-Screen eines Mitspielers – also dem ballfernen Block mit Blick zur Grundlinie – den Abschluss sucht bzw. attackiert (wie mit einem Curl).
So sehr die Berliner einen solch frühen Abschluss auch forcieren mögen, die Offensive bricht keinesfalls zusammen, falls aus diesem einen ballfernen Block nicht der direkte Abschluss möglich ist. Das liegt auch daran, dass die über den einen Block tanzenden Flügelspieler es verstehen, gegebenenfalls direkt zum Passgeber zurückzuspielen. Kommt die Hilfe des Verteidigers jenes Passgebers, ergibt sich daraus oft ein offener Wurf.
Auch in folgendem Video passt Marcus Eriksson als primäre Off-Screen-Option zurück – ehe er von Martin Hermannsson erneut für den Dreier angespielt wird.
Diese erste Sequenz schneidet auch die Improvisation der Berliner Offensive an: Eigentlich hätte Eriksson einen Pin-Down von Tim Schneider an der rechten Seite nutzen können – stattdessen cuttet er durch die Zone und erhält auf der anderen Seite einen Off-Ball-Screen von Luke Sikma (welcher gut nach Erikssons Entscheidung reagiert und einen solchen Block stellt).
In den beiden Aktionen danach zeigt sich, welche Option auch der Blocksteller selbst sein kann. Gegen München ist Sikma am Korb offen, da sich die Bayern-Defense hinsichtlich des Switchens nicht einig ist. Und gegen den MBC versteht es Sikma gekonnt, durch seinen „Seal“ einen solchen Switch zu forcieren und den kleineren Flügelspieler Andrew Warren in ein Post-up und damit Mismatch zu zwingen. Die Weißenfelser Help-Defense bestraft Sikma mit dem Kickout-Pass auf Tim Schneider.
„Es sind oftmals auch keine Plays, sondern Einstiege“, hatte Päch gesagt. Die bisherigen Sequenzen zeigen, welch unterschiedlichen Optionen sich in der Berliner Offensive nach nur einem einzigen Block ergeben können.
Keine Mannschaft in der BBL dürfte mit mehr ballfernen Blöcken agieren als ALBA BERLIN unter Aíto. Dieser Fokus auf Off-Screen-Aktionen sowie die vielen Fastbreaks und relativ wenigen direkten Abschlüssen aus dem Eins-gegen-Eins und dem Pick-and-Roll haben an dieser Stelle schon frühzeitig zu einem Vergleich mit den Golden State Warriors geführt.
Die folgenden Tabellen zeigen die Play-Type-Statistiken der Berliner in den Playoffs 2018, Playoffs 2019 und dem gesamten BBL-Turnier 2020.
Im Schnitt stellt der Fastbreak die zweithäufigste Abschlussart nach dem Spot-up, knapp vor Aktionen des Ballführers im Pick-and-Roll. Ein etwa gleiches Verhältnis nehmen Eins-gegen-Eins- und Off-Screen-Aktionen ein. Was auch daran liegt, dass die Berliner beim diesjährigen Final-Turnier häufiger die Isolation gesucht haben (und diesmal auch effizient daraus abgeschlossen haben). Interessant zu beobachten ist auch der gestiegene Anteil an Post-ups.
Durch zurück zu den Off-Screen-Aktionen: So finden sich auch in den wiederkehrenden Spielzügen Aítos Playbook häufig ballferne Blöcke.
Play: Triple Off-Ball-Screens
Gleich drei solcher ballfernen Blöcke nutzt ein Flügelspieler in folgendem Spielzug, wenn er die Grundlinie von der einen zur anderen Seite entlangläuft. In der ersten Aktion des folgenden Videos ist dies Marcus Eriksson. Für gewöhnlich erhält jener Flügelspieler in einem Einstieg des Plays den Ball vom Aufbauspieler an der Seite, der Aufbauspieler (in der ersten Aktion Jonas Mattisseck) rotiert danach in die Zone. Vom Weakside-Flügel rotiert ein anderer Ballhandler oder Außenspieler zur Birne (Kenneth Ogbe) und wird von der Off-Screen-Option angespielt – ehe der Ausstieg nach drei ballfernen Blöcken gesucht wird.
In einer zweiten Option nutzt der Flügelspieler den ersten Block, macht dann aber kehrt Richtung Ausgangspunkt seines Antritts. Im folgenden Video nimmt in der ersten Aktion Marcus Eriksson diese Rolle ein. Der Ball geht nun auf die andere Seite (zu Niels Giffey). Der Spielmacher, der zum Einstieg in die Zone gecuttet war (Peyton Siva), stellt für einen Big Man (Luke Sikma, der bei der ersten Option den ersten Block gestellt hätte) einen Back-Screen – für einen offenen Layup am Korb.
Jenen Spielzug mit drei ballfernen Blöcken hatte übrigens Pedro Calles bei RASTA Vechta laufen lassen, vor allem nach einem Einwurf von der Seitenauslinie. In der Saison 2018/19 agierte hierbei vor allem Austin Hollins als Schütze.
Play: Shooter / Alley
Mit zwei Optionen ist auch folgender Spielzug ausgestattet, der entweder einen Schützen an der Birne oder einen Big Man nach einem Back-Screen für den Alley-Oop freispielen soll. Der Aufbauspieler (in der ersten Aktion des folgenden Videos Peyton Siva) dribbelt an der Seite nach vorne, passt dort auf einen anderen Außenspieler (Jonas Mattisseck) und erhält den Ball per Hand-Off zurück. Von der Weakside rotiert ein anderer Flügelspieler (Rokas Giedraitis) in die Zone und stellt einen Back-Screen für den Center (Landry Nnoko).
Statt einen Back-Screen für den Big Man zu stellen, kann der Flügelspieler in einer zweiten Option einen Pin-Down jenes Big Man nutzen. In der ersten Aktion des folgenden Videos vertauschen Marcus Eriksson und Johannes Thiemann diese Rollen des Blockstellens.
Auch ist es möglich, dass der Flügelspieler zwar einen Back-Screen für den Big Man stellt – nach seiner Rotation zur Birne aber dennoch eine Wurfoption darstellt.
Play: HORNS
Per Back-Screen soll auch in folgendem HORNS-Spielzug ein Big Man freigeblockt werden. HORNS bedeutet, dass zwei Spieler – für gewöhnlich die beiden Big Men – an den Ecken und an der Höhe der Freiwurflinie stehen. In folgendem Spielzug läuft der Aufbauspieler ein Pick-and-Roll mit einem der Big Men (in der ersten Aktion des Videos Peyton Siva und Landry Nnoko). Von der ballstarken Seite cuttet ein Flügelspieler (Rokas Giedraitis) in die Zone und stellt dort für den zweiten Big Man (Luke Sikma) einen Back-Screen.
Die Albatrosse formieren sich häufiger in solchen HORNS-Varianten. Gerne suchen sie dabei Luke Sikma als Spielmacher. In diesem Spielzug ist er aber als Scorer gefragt – und kann dabei auch seine nicht zu unterschätzende Athletik unter Beweis stellen.
Play: Flex Action #1
Auch in folgendem Spielzug stehen die beiden Big Men in einer HORNS-Formation. Einer der beiden Big Men erhält den Ball (in der ersten Aktion des folgenden Videos Luke Sikma), der andere Big Man (Johannes Thiemann) stellt ein Back-Screen für den Spielmacher (Peyton Siva). Dieser cuttet in die Zone und orientiert sich zur Weakside-Ecke. Dort stellt der Spielmacher einen Cross-Screen für einen Flügelspieler (Rokas Giedraitis), der die Baseline entlang zum Korb cuttet (dies wird „Flex-Screen“ genannt).
Die beiden letzten Aktionen zeigen auch die Gefahr des Blockstellers beim (möglichen) Cross-Screen bzw. die schnelle Improvisation Berlins. In der dritten Sequenz ist Martin Hermannsson als Blocksteller selbst frei in der Zone. Bei der vierten Aktion cuttet Peyton Siva, ohne den Block wirklich zu stellen, wieder nach oben und ermöglicht schließlich Marcus Eriksson einen offenen Wurf.
In einer zweiten Option des Plays cuttet der Spielmacher nicht zur Weak-, sondern zur Strongside. Hier wird der Cross-Screen nur angedeutet, oftmals bewegt sich der Spielmacher (in der ersten Aktion des folgenden Videos Martin Hermannsson) wieder nach oben und erhält per Hand-Off den Ball von einem der beiden Big Men (Luke Sikma). Daraus ergeben sich mehrere Optionen: Oftmals stellt der Flügelspieler – der eigentlich einen Cross-Screen hätte bekommen können – einen Back-Screen für den passgebenden Big Man. Eventuell forcieren die Berliner daraus Mitmatches.
In den beiden letzten Aktionen des Videos sind weitere Variationen zu beobachten. In der vorletzten Aktion stellt Martin Hermannsson einen Cross-Screen für Rokas Giedraitis. Der curlt aber um diesen Block, um sodann selbst einen Block abseits für Hermannsson zu stellen.
In der letzten Aktion täuscht Siva als Initiator des Plays den Cut nach unten nur an, nutzt selbst einen Block von Landry Nnoko, um sich etwas Platz für das Attackieren zu verschaffen.
Play: Flex Action #2
In der ersten Option des vorherigen Plays war zu erkennen, wie der Spielmacher einen Cross-Screen stellt, um danach selbst einen Pin-Down zu nutzen. Dies ist eine sogenannte „Screen the Screener“-Aktion, die man in einer Flex Offense wie die Berlins häufiger beobachten kann. Bzw. lassen auch die Laufwege darauf schließen.
Auch nachfolgendes Play enthält eine solche „Screen the Screener“-Aktion. Dabei stellt ein Außenspieler (in der ersten Aktion des folgenden Videos Makai Mason), der von der Weakside-Ecke in die Zone cuttet, einen Back-Screen für einen Big Man (Luke Sikma). Anschließend nutzt jener Außenspieler einen Pin-Down des zweiten Big Man (Tyler Cavanaugh), um danach entweder von der Birne abzudrücken oder in die Zone zu ziehen.
Jenen Spielzug hatte übrigens der ehemalige Assistant Coach Berlins, Thomas Päch, in der vergangenen Saison bei den Telekom Baskets Bonn in sein Playbook implementiert.
Passing Highlights: Luke Sikma
In einigen bisher aufgeführten Spielzügen fungierte ein Big Man als Passgeber von der Dreierlinie, in Berlin nimmt oftmals Luke Sikma diese Rolle ein. Im basketball.de-Interview erklärte Niels Giffey dazu: „Wir haben ja auch viele Situationen, in denen die Big Men die Passgeber sind – Luke Sikma ist dabei der Dreh- und Angelpunkt, der als Vierer extrem kreativ ist.“
Seine Kreativität zeigt Sikma gerne vom High-Post, wenn er in einer Drehbewegung seinen Hintern herausstreckt, so dem Verteidiger des cuttenden Mitspielers eine mitgibt – und anschließend den eigenen Gegenspieler für den Bodenpass-Assist tunnelt. Hier und da tunnelt sich Sikma auch selbst – um eine andere Form des Hand-Offs zu wählen.
Neben dem High-Post-Tunnel hat Sikma mit dem Bodenpass hinter dem Rücken einen weiteren Signature-Move der BBL geschrieben. Häufig bringt Sikma diesen Pass aus einem Einwurfspielzug an, wenn er an der Birne den Ball erhält (dazu später mehr). Mit welcher Präzision und teilweise mit welchem Effet Sikma diese Bodenpässe anbringt, ist beeindruckend – „MVP: Most Valuable Passes“-beeindruckend …
Element: Fake Hand-Offs
Weil die Berliner in ihrem Offensivsystem mit solchen Hand-Offs operieren, muss die gegnerische Verteidigung diesen Aktionen natürlich respektieren. Womit sich für die Albatrosse Wurfmöglichkeiten ergeben, wenn diese Hand-Offs nur angetäuscht werden. So können mögliche Switches mit einem angetäuschten Hand-Off bestraft werden.
BLOB-Play: Hand-Off für Eckendreier
Aus einem Hand-Off forcieren die Berliner auch in folgendem Einwurfspielzug einen Abschluss, zumeist einen Dreier aus der Ecke. Der Einwerfer (in der ersten Aktion Peyton Siva) passt zu einem Big Man (Landry Nnoko), welcher nahe an der Grundlinie steht, rotiert in die Ecke und erhält per Hand-Off samt Wurfschirm jenes Big Man den Ball zurück.
SLOB-Play: Cross-Screen für Einwerfer
Beim Einwurf an der Seitenauslinie hat Aíto einen noch häufiger genutzten Spielzug im Repertoire – der bei Sikmas Highlight-Assists bereits zu sehen war. Der Einwerfer (in der ersten Aktion des folgenden Videos Rokas Giedraitis) spielt einen Ballhandler an (Peyton Siva) und rotiert dann Richtung Ecke. Der Ballhandler gibt weiter an die Birne zum Power Forward (Luke Sikma), der als Passgeber für ein Anspiel in die Zone fungiert: für den Einwerfer, der einen Cross-Screen des Centers (Landry Nnoko) nutzt. Dabei kann der Einwerfer nah an der Baseline entlang cutten oder den Block weiter oben nutzen.
In einer zweiten Option nimmt der blockstellende Center (in der ersten Aktion des folgenden Videos Johannes Thiemann) seinen Gegenspieler auf den Rücken – für gewöhnlich hat der Center eh schon tief in der Zone Position bezogen – und macht sich für ein Post-up bereit.
Element: Post-up eines Flügelspielers
Im Lauf Aítos Amtszeit in Berlin scheint das Post-up generell eine größere Rolle einzunehmen. Das deuten die zuvor aufgeführten Play-Type-Stats an. Beim BBL-Final-Turnier schlossen die Berliner aus immerhin 10,3 Prozent ihrer Offensivaktionen nach einem Post-up ab.
So findet sich auch das Element im Berliner Offensivsystem, dass ein Flügelspieler nach einem einfachen Cut in der Zone anspielbar ist. Von der Weakside kommend, soll der Cut die Defensive überraschen und potentielle Mismatches ausgenutzt werden.
Häufig nutzt Niels Giffey solche Cuts, wenn er auf der Drei agiert; auch Guard Martin Hermannsson ging hin und wieder in das Post-up über. Giffey erklärt dies im basketball.de-Interview mit dem besonderen Individualtraining unter Aíto und Co.:
„Aíto lässt am Anfang der Saison, und das auch bis weit in die Saison hinein, alle Spieler alle Drills mitmachen. Selbst die Big Men laufen bei Zwei-gegen-Null-Drills manchmal Pick-and-Rolls … Und jeder spielt eben auch mal im Low-Post. Ich glaube, so bekommt Aíto über die Saison hinweg ein Gefühl, welche Spieler für manche Dinge talentiert sind, welche weniger, und bei welchen Spielern man noch ein paar Prozent herauskitzeln kann.“
Element: Strongside-Cut eines Flügelspielers
Neben dem Weakside- ist auch der Strongside-Cut ein Element, das man in der Berliner Offensive häufiger beobachten kann. Auf den Einstieg eines Hand-Offs zwischen Power Forward und Point Guard folgt in vielen Offensiven ein 1-5er Pick-and-Roll. Der schnelle Cut von der Strongside soll die Verteidigung auf dem falschen Fuß erwischen. Der Flügelspieler nimmt dabei so viel Fahrt auf, dass er nach dem Anspiel häufig direkt am Ring abschließen kann, ohne in ein Post-up übergehen zu müssen.
Play: Back-Screen Pick-and-Roll
Wie erwähnt, sind die Berliner unter Aíto eine Mannschaft, die verhältnismäßig selten den direkten Abschluss aus dem Pick-and-Roll sucht. Vor allem, was den Blocksteller betrifft. Und dennoch haben auch die Albatrosse einen Spielzug im Playbook, bei dem ein Pick-and-Roll eine wichtige Rolle einnimmt – aber ein spezielles Pick-and-Roll.
Im Back-Screen Pick-and-Roll (das viele auch „Spain Pick-and-Roll“ nennen) kommt ein dritter Spieler hinzu und stellt einen Block in den Rücken des Big-Man-Verteidigers. Jener Spielzug wurde an dieser Stelle schon häufiger analysiert.
Während mit Andrea Trinchieris Engagement in Bamberg jener Spielzug in der BBL getrendet war, hat sich die Verwendung des Back-Screen Pick-and-Rolls unter den Teams mittlerweile wieder verringert – auch bei Berlin. Häufig packten die Albatrosse das Play am Ende eines Viertels aus. Interessant ist bei den Albatrossen, dass es dabei keinen bestimmten Einstieg in das Play gibt. Eher improvisieren die Spieler ballabseits mit Cuts, ehe es zum Hauptelement kommt.
Berlins Defense: aggressiv und vielseitig
Die wenigen direkten Abschlüsse aus dem Pick-and-Roll sind im modernen Basketball ungewöhnlich. Schier einzigartig ist die Berliner Verteidigung – auf Grund ihrer Vielseitigkeit und vor allem wegen ihrer besonderen Elemente.
Blickt man auf das BBL-Final-Turnier zurück, gaben die Albatrosse dem Vizemeister aus Ludwigsburg in der Vorrunde etwas von deren eigenen Medizin und packten selbst eine Full-Court-Presse aus. Im ersten Finalspiel ließ Aíto zum Ende der ersten beiden Viertel mit einer 2-3-Zonenverteidigung operieren.
Geht es in die Mann-Verteidigung über und dort in das Pick-and-Roll, operieren die Berliner meist mit einer aggressiven Hedge-and-Recover-Variante. Switches sieht man hingegen relativ selten. Im gegnerischen Pick-and-Roll verteidigen die Berliner mit einer weiteren, im BBL-Vergleich besonderen Variante: der sogenannten „Next“-Defense (dazu gleich mehr).
Defense: Box-and-One
Und dann packt Aíto noch ab und an die „Box and One“-Defense aus: ein Defensivkonzept, in dem vier Spieler in einer 2-2-Zone stehen, während sich ein Verteidiger der Spezialüberwachung des gegnerischen Go-to-Guys annimmt. In der EuroLeague war diese „Box and One“-Defense auch ein Schlüssel für die Siege gegen Kaunas, Mailand und Panathinaikos.
Im BBL-Pokal-Finale gegen Oldenburg schalteten die Berliner nach der Halbzeitpause auf diese Verteidigungsform um, nahmen den Baskets jeglichen Rhythmus und gewannen das Viertel mit 25:8!
Jonas Mattisseck nahm sich dabei Rickey Paulding an, der – nach einer bereits schwachen in ersten Hälfte – so weiter nicht ins Spiel kam.
Niels Giffey muss auf Frage, wann er denn vor der Saison 2019/20 das letzte Mal in einer „Box and One“-verteidigt hatte, etwas lachen: „Gute Frage, so gut wie nie.“ Laut des Berliner Kapitäns stelle sich Coach Aíto vor solch besonderen Spielen schon die Fragen, wie sich der Gegner verhält, „wenn man einen ganz bestimmten Spieler ausschaltet. Und wie reagiert dieses Team, wenn man seinen Rhythmus bricht?“
„Die Kreativität von Aíto ist schon besonders – und das hört eben nicht bei der Offensive auf, sondern zeigt sich auch in der Defensive“, führt Giffey aus. „Wir, die wir vielleicht 30 Jahre alt sind, betrachten so etwas als ganz normal und kennen beispielsweise nur eine gewisse Anzahl an Verteidigungsarten: im Pick-and-Roll Drop, Switch, Ice oder Trap. Und ansonsten musst du nur hart spielen. Nein, eben nicht, es gibt eben noch ganz andere Elemente.“ Wie die sogenannte „Next“-Defense (manchmal auch „Wall“ genannt).
Element: „Next“ im gegnerischen Pick-and-Roll
Dabei übt ein dritter Verteidiger Druck auf den gegnerischen Ballhandler im Pick-and-Roll aus. Der Verteidiger, der am ballfernen Flügel steht, rotiert zur Mitte. Er kann das Doppeln nur antäuschen und wieder zurückrotieren, oder eben ganz auf den Ballhandler gehen und so im Optimalfall einen Ballverlust erzwingen.
Diese besonders aggressive Pick-and-Roll-Defense will Ballverluste des Ballhandlers erzwingen. Sie ist jedoch auch riskant, da durch das Wegrotieren des Flügelverteidigers eben jener Flügel sehr offen für die gegnerische Offensive ist.
Element: Run-and-Jump
Ein noch überfallartigeres Doppeln sieht man ab und an beim Spielaufbau des Gegners – wenn ein zweiter Verteidiger, meist auf Höhe der Mittellinie, zum Aufbauspieler vorsprintet. Dies nennt man das „Run and Jump“-Prinzip, das man bei Berlin aber nicht so häufig sieht. In der BBL hatte dies Pedro Calles bei RASTA Vechta eingeführt.
So schön der Offensivbasketball Aítos anzusehen ist, der Verteidigung scheint weniger Aufmerksamkeit zuzukommen. „Ja, das mag sein. Das liegt vielleicht auch daran, dass unsere Spiele meist extrem hoch ausfallen, da wir ein schnelles Tempo laufen. Deswegen vergisst man vielleicht, auch die Verteidigung hervorzuheben“, schneidet Giffey an, dass im BBL-Diskurs das Thema Pace noch nicht wirklich angekommen ist.
Im BBL-Final-Turnier wiesen die Berliner, knapp hinter Brose Bamberg, die zweithöchste Spielgeschwindigkeit auf. Und laut Overbasket flogen die Albatrosse 2019/20 gar mit der schnellsten Pace über das EuroLeague-Hartholz.
Die Freiräume des Denkens
„Ich glaube, Aíto besitzt auch deswegen eine andere Perspektive, weil er die Entwicklung des Basketballs hautnah miterlebt hat“, erklärt Giffey im Interview die Kreativität seines Coaches. „Durch solche Erlebnisse und seine Erfahrungen geht Aíto ganz anders in seinem kreativen Denken an Basketball heran.“
So verwundert es nicht, wenn Pedro Calles sagt, dass für ihn Aíto „die erste Anlaufstelle ist, wenn es darum geht, mein Basketballverständnis zu verbessern. Für mich, wie auch für viele andere Coaches in Spanien, ist Aíto der Lehrer.“
Ulms Trainer Jaka Lakovic wurde unter anderem in Spanien sozialisiert, vor seinem Engagement bei den Schwaben arbeitete der Slowene unter anderem als Assistant Coach in Bilbao und Badalona. So ist das „Next“-Prinzip auch bei Lakovics Defensivsystem in Ulm zu beobachten – sogar in noch konsequenterer Form, wenn der Weakside-Flügelverteidiger auf den gegnerischen Ballhandler switcht.
„Momentan ist nicht von der Hand zu weisen, dass es ein Trend ist, nach Spanien zu schauen. Das hat sicherlich etwas mit dem Einfluss von Aíto bei ALBA BERLIN zu tun“, weiß Ulms Sportdirektor Thorsten Leibenath um den Einfluss Aítos auch in der BBL.
Die vorliegende Analyse hat in großem Maß auf die vergangene Saison geblickt. Mit seiner Kreativität und seinem Erfahrungsschatz wird Aíto selbstverständlich sein Playbook weiterentwickeln und den Gegebenheiten seines Kaders anpassen. Landry Nnoko als sich unter Aíto entwickelnde Post-up-Option wird in der kommenden Saison ebenso fehlen wie vor allem Rokas Giedraitis, der eine so wichtige Off-Screen-Option für Berlin gewesen ist.
Elemente wie Prinzipien werden sicherlich bleiben. Ebenso allgemein die so erfrischend zu beobachtende Offensiv-DNA samt Fokus auf Transition, ballferne Blöcke und Flex-Actions sowie die vielseitige Verteidigung. So wird Aíto auch, oder gerade wegen seiner 73 Jahre, weiter kreativ am Berliner System feilen – was Niels Giffey bestätigt, wenn er meint: „Aíto betrachtet bestimmte Sachen nicht als gestandene Form des Basketballs, sondern sieht das Ganze noch kreativer. Er gibt sich selbst als Coach wahrscheinlich noch mehr Freiräume des Denkens.“
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