Niels Giffey: „Das Lehren ist für Aíto eine Lebensaufgabe“

Niels Giffey spielt seit mittlerweile drei Jahren unter Coach Aíto. Im Interview spricht der Kapitän von ALBA BERLIN über die Philosophie und Kreativität der Trainerlegende, wie er unter Aíto zur Low-Post-Option geworden ist und ob es noch Bedarf an einer Spielergewerkschaft gibt.

basketball.de: Im Interview bei MagentaSport kurz nach der Meisterschaft wurdest du gefragt, ob Coach Aíto zurückkehren würde. „Ich glaube, er hat heute Morgen wieder ein Vogel-Photo gepostet. Er macht genau, was er will“, hattest du geantwortet. Wie oft hast du in der Offseason seinen Instagram-Account gecheckt, um daran vielleicht erahnen zu können, ob er seinen Vertrag verlängert?

Niels Giffey: (lacht) Das hat damit gar nichts zu tun. Ich schaue mir seinen Instagram-Account auch so ab und zu an – der ist ganz unterhaltsam, wenn man Aíto kennt.

Ich konnte mir schon vorstellen, dass er verlängert, wenn es seine Gesundheit zulassen würde. Weil ich glaube, dass er einfach Lust hatte, mit der Gruppe, die hier geblieben ist, sowie den neuen Spielern, die auch gute Charaktere sind, weiterzumachen.

Was hast du in den vergangenen Jahren von Aíto gelernt, das nichts mit Basketball zu tun hat?

Wie man eine Gruppe von Menschen mit purem Respekt führen kann, das aber mit einer sehr lockeren Art und Weise. Das ist mir über die Jahre bei ihm extrem aufgefallen. Aíto behandelt alle Menschen so respektvoll und gibt jedem eine Chance – auch wenn ein Spieler basketballerisch vielleicht nicht der talentierteste ist. Das respektiere ich sehr.

Als ich mich einmal mit Pedro Calles unterhalten hatte, sagte er über Aíto: „Er bringt seinen Spielern nicht nur Basketball bei. Er zeigt ihnen, dass es weit mehr gibt. Vor allem junge Spieler sollten nicht nur an Basketball denken. Wenn du das tust, hast du eine gute Balance – und kannst wiederum das Beste aus deiner Basketballkarriere herausholen.“ Ist das etwas, das Aíto von anderen Coaches abhebt?

Auf jeden Fall. Das gibt ihm eine gewisse Leichtigkeit bei all dem, was er macht. Und Basketball muss bei ihm auch nicht immer todernst sein. Es ist ein Spiel für ihn – ein Spiel, das er liebt.

Ich glaube, dass das Lehren für Aíto auch eine Lebensaufgabe geworden ist. Es geht ihm dabei mehr um den Prozess an sich, um die Idee, sich zu entwickeln und zu verbessern. Das ist ihm fast wichtiger, als auf Teufel komm raus Ergebnisse zu erzielen.

Du hast in deinen ersten beiden Profijahren in Berlin unter Sasa Obradovic gespielt. Ein Trainer, der auch für seine härtere Gangart bekannt ist. Der Erfolg gibt ihm dabei durchaus Recht. War es für dich dahingehend eine Umstellung zu Aíto, bei dem – wie du meinst – der Basketball nicht immer todernst sein müsse?

Ja, das war es. Es sind Kleinigkeiten, mit denen ich erstmal zurechtkommen musste. Sasa Obradovic und andere Coaches, die aus dieser Art von Kultur kommen, bauen einen gewissen Druck auf. Als Spieler kannst du diesen Druck dann auf dem Spielfeld entladen. Aíto hingegen wird auf keinen Fall diese Art von Druck aufbauen. Deshalb musst du auch lernen, dir deinen eigenen Biss anzueignen. 

„Bis weit in die Saison machen alle Spieler alle Drills mit – selbst die Big Men laufen Pick-and-Rolls“

Du hast eben das prozessbezogene Denken Aítos erwähnt. Diesbezüglich meinte Pedro Calles zu mir auch: „Es geht darum, seinen Spielern etwas beizubringen und sie am Ende der Saison besser gemacht zu haben. Der Spieler, den du im August bekommst, sollte nicht der gleiche sein, wenn er im Juni das Team verlässt.“ Wo bist du im Lauf der vergangenen Saison oder auch in den drei Jahren unter Aíto besser geworden?

Allgemein hilft es, von Aíto zu lernen, was das Spielverständnis und das Lesen von Situationen, auch in der Verteidigung, betrifft. Ich glaube, ich bin in den vergangenen Jahren besser darin geworden, das Spiel zu antizipieren: wann man in bestimmten Situationen gambeln und auf Steals gehen kann.

Offensiv hat mir Aíto sehr viel im Low-Post geholfen. Das hatte ich zuvor gar nicht im Repertoire – jetzt ist der Low-Post ein großer Teil meines Spiels, der mir enorm hilft.

Deine Entwicklung im Post-up ist mir auch aufgefallen. Wolltest du von dir aus daran arbeiten? Oder war das mehr systembedingt – dass Aíto meinte, es wäre gut, wenn du dich in dem Bereich entwickeln würdest?

So kann man das nicht sagen. Aíto macht folgendes: Er lässt am Anfang der Saison, und das auch bis weit in die Saison hinein, alle Spieler alle Drills mitmachen. Selbst die Big Men laufen bei Zwei-gegen-Null-Drills manchmal Pick-and-Rolls … Und jeder spielt eben auch mal im Low-Post.

Ich glaube, so bekommt Aíto über die Saison hinweg ein Gefühl, welche Spieler für manche Dinge talentiert sind, welche weniger, und bei welchen Spielern man noch ein paar Prozent herauskitzeln kann.

Irgendwie haben bei mir da ein paar Dinge geklickt. Nicht direkt im ersten, aber dafür im zweiten und dritten Jahr bin ich im Low-Post immer besser geworden.

Ihr habt auch einen Spielzug, oder sagen wir Prinzip, bei dem ein Flügelspieler aus der Ecke in die Zone cuttet, um für das Post-up angespielt zu werden. Schaut man sich die Zahlen an, haben bei euch die Anteile von Post-ups über die drei Jahre zugenommen – eigentlich eine entgegengesetzte Entwicklung zum Smallball-Trend. Warum ist dem so?

Für Aíto ist das einfach ein elementarer Teil des Spiels. Pick-and-Rolls oder das Eins-gegen-Eins mit dem Gesicht zum Korb sind nicht immer die Lösung. Auch Low-Post-Spieler oder allgemein Big Men sind ein elementarer Teil des Spiels. Wir haben ja auch viele Situationen, in denen die Big Men die Passgeber sind – Luke Sikma ist dabei der Dreh- und Angelpunkt, der als Vierer extrem kreativ ist.

„Aíto haut manchmal Anekdoten von Situationen raus, als es noch keine Dreierlinie gab“

Wann hast du eigentlich vor der vergangenen Saison zuletzt eine Box-and-One-Defense gespielt?

(lacht) Ja, genau. Gute Frage, so gut wie nie.

Ihr habt in der EuroLeague Teams wie Panathinaikos, Zalgiris oder Mailand auch dank eurer Box-and-One-Defense geschlagen. Im Pokal-Finale gegen Oldenburg seid ihr deswegen im dritten Viertel davongezogen. Wie lief das in dem konkreten Fall ab: Habt ihr die Defense so verinnerlicht, dass Aíto in der Halbzeitpause spontan gesagt hat, dass ihr nun so verteidigen sollt? Oder habt ihr das vor dem Finale nochmal trainiert, weil es Teil des Gameplans war?

Ohne zu sehr ins Detail zu gehen, glaube ich, dass Aíto sich vor solchen Spielen schon die Fragen stellt: Wie könnte sich der Gegner verhalten, wenn man einen ganz bestimmten Spieler ausschaltet? Und wie reagiert dieses Team, wenn man seinen Rhythmus bricht?

Bei manchen Mannschaften reicht es ja schon aus, wenn sie ihre Systeme nicht mehr laufen können und sie frei spielen müssen. Manche Teams fühlen sich damit nicht wohl, für sie ist das dann ein ganz anderes Spiel. Dann hast du eine höhere Chance, Turnover zu generieren.

Ihr verteidigt auch das Pick-and-Roll in der BBL ziemlich einzigartig: mit der „Next“-Defense, bei der ein Flügelspieler von der Weakside zum gegnerischen Ballführer rotiert. Neben der Box-and-One agiert ihr auch mal mit einer normalen Zone, ihr verteidigt ab und an über das ganze Feld. So schön euer Offensivbasketball ist: Mir scheint, als bekommt eure Defensive nicht so viel Aufmerksamkeit wie sie verdient.

Ja, das mag sein. Das liegt vielleicht auch daran, dass unsere Spiele meist extrem hoch ausfallen, da wir ein schnelles Tempo laufen. Deswegen vergisst man vielleicht, auch die Verteidigung hervorzuheben.

Die Kreativität von Aíto ist schon besonders – und das hört eben nicht bei der Offensive auf, sondern zeigt sich auch in der Defensive. Man merkt hier einfach sein Basketballwissen, wie viel Basketball er in seinem Leben schon gesehen hat. Er haut manchmal Anekdoten von Situationen raus, als es noch keine Dreierlinie gab … Das verändert das Spiel ja so sehr. Wir, die wir vielleicht 30 Jahre alt sind, betrachten so etwas als ganz normal und kennen beispielsweise nur eine gewisse Anzahl an Verteidigungsarten: im Pick-and-Roll Drop, Switch, Ice oder Trap. Und ansonsten musst du nur hart spielen. Nein, eben nicht, es gibt eben noch ganz andere Elemente.

Ich glaube, Aíto besitzt auch deswegen eine andere Perspektive, weil er die Entwicklung des Basketballs hautnah miterlebt hat. Als er angefangen hat, wird es noch keine Teams gegeben haben, die in der Defense beim Pick-and-Roll den Ball zur Seite gepusht haben, was man heutzutage als „Ice“, „Blue“ oder „Push“ kennt. Oder die im Pick-and-Roll eben getrappt oder geswitcht haben.

Durch solche Erlebnisse und seine Erfahrungen geht Aíto ganz anders in seinem kreativen Denken an Basketball heran. Er betrachtet bestimmte Sachen nicht als gestandene Form des Basketballs, sondern sieht das Ganze noch kreativer. Er gibt sich selbst als Coach wahrscheinlich noch mehr Freiräume des Denkens.

„In den USA hieß es: push harder, trainiere härter, trainiere mehr“

Wenn du diese verschiedenen Perspektiven, diese Kreativität und diesen großen Erfahrungsschatz ansprichst: Was macht das mit dir als Spieler? Verfolgst du noch mehr Basketball und achtest auf mehr Details?

Ja, durchaus. Gerade, wenn man sich für spanischen Basketball interessiert. Der ist nicht nur schnell, sondern auch weniger physisch. Man schaut schon anders auf das Spiel. Und man wird sich auch der verschiedenen Arten des Sports innerhalb Europas bewusst. Die Spielkultur in Deutschland wurde ja stark von Amerikanern und dem ehemaligen Jugoslawien geprägt. Das schlägt sich beispielsweise auch auf die Schiedsrichter nieder – die letztlich auch ein Teil der Basketballkultur sind.  

Du meinst, dass sie durch das physischere Spiel mehr laufen lassen?

Genau. Wenn man sich mehrere Situationen anschaut, würden in der spanischen Basketballkultur manche Dinge bestimmt anders gepfiffen werden als in der deutschen Basketballkultur. Und noch einmal ganz anders als in der Basketballkultur des Balkans.

Über solche Dinge habe ich vorher gar nicht nachgedacht. Aber durch Aíto bekommt man eine solche Perspektive. Man betrachtet das auch gar nicht mal kritisch, sondern erkennt einfach den Unterschied der Basketballkulturen.

Das zeigt sich auch im Training. Wir arbeiten schon im Einzeltraining viel damit, Situationen zu lesen und auf bestimmte Zeichen zu reagieren. So etwas habe ich davor auch noch nicht gemacht. Ich war in den USA, da hieß es halt: „push harder“, trainiere härter, trainiere mehr, versuche einen schnelleren und noch besseren Move. Das sind einfach andere Kulturen – aber beide sind legitim.

„Gerade nach diesem Sommer würden sich viele Spieler dem Thema Gewerkschaft öffnen“

Lass uns zum Schluss noch auf das BBL-Final-Turnier zurückblicken. Im Vorfeld gab es, auch von deiner Seite, Kritik an der Liga: Ihr habt euch als Spieler nicht abgeholt gefühlt, als die Idee einer Bubble aufkam. In dem Zusammenhang wurde auch das Bedürfnis nach einer Spielergewerkschaft ersichtlich. War dies Thema in München?

Auf jeden Fall, das war eines der Gesprächsthemen. Es war wichtig, dass ein paar von uns Spielern die Situation angesprochen und gefordert haben, dass wir mehr eingebunden werden. Es war extrem gut, in der Bubble einfach mal Zeit zu haben, mit den anderen Jungs zu sprechen: über die aktuelle Situation, die finanziellen Auswirkungen und die gesundheitlichen Risiken. Und auch mit den Mitarbeitern der BBL kam man ins Gespräch – so konnte man beide Seiten verstehen.

Seid ihr beim Thema Spielergewerkschaft weitergekommen? Oder ist das Bedürfnis nach dem letztlich gelungenen Turnier gar nicht mehr so groß?

Ich weiß nicht ganz genau, wie der aktuelle Stand ist. Es wurde aber angestoßen. Und ich glaube auch, dass es nach wie vor einen Bedarf dafür gibt. In der EuroLeague hilft das auf jeden Fall. Gerade nach diesem Sommer und dieser Saison glaube ich auch, dass sich viele Spieler dem öffnen würden. Die Situation um die Bubble herum hat einfach gezeigt, dass es wichtig ist, sich als Gemeinschaft zu äußern.

Von der BBL- zur NBA-Bubble: Dort ist das sogenannte „Tampering“ häufig Thema – das (verbotene) Werben um Spieler. Vor dem Turnierstart in Orlando sprach man von der „Tamperpalooza“ – weil die NBA-Spieler ebenfalls im gleichen Hotelkomplex wohnen. So etwas sollte es doch auch bei euch in München gegeben haben, oder?

Nicht unbedingt. Es war einfach eine coole Atmosphäre. Es gibt viele Leute, die du von der Nationalmannschaft oder aus der BBL schon seit Jahren kennst: als Spieler, aber als Person nur ein bisschen. Jetzt hatte man die Möglichkeit, sich mit denen wirklich mal hinzusetzen, drei Stunden zu chillen, Karten zu spielen und sie richtig kennenzulernen. Dafür war die Bubble schon ganz cool.

Aber einen Maodo Lo konntet ihr als ALBA BERLIN schon ganz gut umwerben.

(schmunzelt) Ich glaube, er hat seine Entscheidung dann wirklich im Sommer getroffen. Wir haben sicherlich gute Werbung für uns als Team gemacht – auch in der Bubble: wenn man sieht, dass der Führungsstil bei uns etwas entspannter ist und wir eine gute Zeit haben. Und ganz ehrlich: gewinnen hilft immer. Wenn du Spiele gewinnst, ist die Stimmung meistens gut.