Tyrese Rice: He’s the Fourth
Brose Bamberg kann beim Final Four der Champions League den ersten internationalen Titel der Vereinsgeschichte feiern. Wer sie dahin getragen hat? Tyrese Rice. Der EuroLeague-MVP hat in dieser Saison schon häufig seine Clutch-Qualitäten unter Beweis gestellt.
„Tyrese Rice rettet uns die ganze Saison schon den Hintern.“
Bryce Taylor weiß, bei wem sich Brose Bamberg für den Final-Four-Einzug in der FIBA Basketball Champions League zu bedanken hat. Bei der schönsten Niederlage der Saison, einem 67:69 gegen AEK Athen, sorgte Rice mal wieder für den entscheidenden Wurf.
Nach einem 71:67-Hinspielerfolg lagen die Bamberger im Viertelfinalrückspiel in Athen mit vier Zählern zurück, womit es in die Verlängerung gegangen wäre. Bei 17,3 Sekunden auf der Uhr und Einwurf Seite ging der Ball zu Rice. Der Guard suchte das Eins-gegen-Eins, zog in die Zone, wechselte beim Crossover-Dribbling hinter dem Rücken die Richtung und traf den Floater von der Freiwurflinie. Ein Synonym für Kaltschnäuzigkeit in der Crunchtime? „Rice in his veins“.
„Es ist schwieriger, im Training zehn in Folge zu machen als im Spiel diesen einen Wurf zu treffen“
Als die Bamberger in der vergangenen Offseason Rice verpflichtet hatten und den US-Amerikaner nach fünf Jahren zurück in die Basketball-Bundesliga holten, werden sie sich solche Heldentaten erhofft haben. Nicht, dass Rice 2012/13, damals im Trikot des FC Bayern München, für den Halbfinalauftakterfolg gesorgt und Bamberg 14 seiner 25 Punkte im Schlussviertel eingeschenkt hatte… Während seiner anschließenden Reise durch Europa krönte sich Rice zum EuroLeague- sowie EuroCup-Champion und avancierte dabei sowohl bei Maccabi Tel Aviv als auch bei Khimki Moskau zum MVP des Final Fours bzw. der Endspielserie.
Im EuroLeague-Finale 2014 gegen Real Madrid legte Rice 14 seiner 26 Punkte in der Verlängerung auf, in das Endspiel hatte Rice sein Team zuvor gegen CSKA Moskau per Gamewinner-Layup aus dem Fastbreak geführt. Auf dem Weg in die EuroCup-Finals 2015 entschied Rice mit 14 seiner 28 Zähler im Schlussviertel das Rückspiel gegen Banvit Bandirma fast eigenhändig.
Während Klatschpappen im Lauf der Jahre Einzug in die Basketballhallen fanden, scheint Tyrese Rice sein „Clutch“-Gen behalten zu haben. Als ich Rice kurz vor Saisonstart zum Interview treffe, will ich wissen, worauf diese „Clutchness“ zurückzuführen ist. Rice holt aus und blickt auf seine Zeit als Freshman in der High-School zurück, als er als Neuntklässler gegen viele Seniors spielen musste.
Im vielleicht dritten Spiel der Saison haben wir gegen eine Mannschaft gespielt, die damals landesweit an zweiter Stelle gesetzt wurde. Wir haben uns ganz gut geschlagen und waren am Ende nur mit zwei hinten. Mein Coach sagt dann in der Auszeit: „Wir laufen einen Spielzug für dich, und du wirfst einen Dreier. Keinen Zweier, ich will nicht in die Verlängerung gehen, nimm einen Dreier.“ Ich nur so: „Wer, ich? Ich bin erst 14 Jahre halt und spiele erst seit kurzem.“ (lacht) Die anderen waren 17, 18 Jahre alt und bereit, ans College zu gehen. Ich war vielleicht 1,72 Meter groß und 68 Kilo schwer. Mein Coach sagte weiter: „Mir egal, ob du triffst oder nicht, mach deine Bewegung und wirf einen Dreier.“ Ich bin also raus, habe den Ball bekommen, habe geworfen – und habe verfehlt. Mein Coach sah mich nur an, schüttelte kurz den Kopf und meinte: „Okay“.
Fünf oder sechs Spiele später kam es zur gleichen Situation. Und wieder ging mein Coach über mich und meinte, ich solle auf den Sieg gehen. Und diesmal habe ich getroffen. Seitdem habe ich die Mentalität: Mal gewinnst, mal verlierst du, aber nicht jeder hat das Selbstvertrauen, diese Würfe zu nehmen. Ich glaube daran, dass, wenn du ganz viel Arbeit investierst, es einfach ist, im Spiel diesen einen Wurf zu treffen. Ich habe das Gefühl, es ist schwieriger, im Training zehn in Folge zu machen als eben im Spiel diesen einen Wurf zu treffen.
Das Selbstvertrauen kann man Rice wahrlich nicht absprechen. Der Guard sucht die entscheidenden Würfe, und gemäß seines Mantras – mal gewinnst, mal verlierst du – verfehlt er auch mal „diesen einen Wurf“. Mehrmals. Schon Michael Jordan wusste um das Scheitern und seine über 9.000 Fehlversuche. Doch wie „clutch“ agiert Rice nun in der Offensive? Dieser Frage kann man sich statistisch nähern.
Die „Clutch“-Zeit wird im NBA-Kosmos wie folgt definiert: die letzten fünf Minuten und die Verlängerung eines Spiels, wenn kein Team mit mehr als fünf Punkten Differenz führt. Wertet man alle Bamberger Pflichtspiele in dieser Saison aus, kommt man auf folgende „Clutch“-Statistiken bei Rice:
Poss | PPP | FG% | 3FG% | FT% | FT Freq% | TO Freq% | |
---|---|---|---|---|---|---|---|
BBL und BBL-Pokal | 69 | 0,91 | 40,0 | 32,1 | 73,7 | 14,5 | 11,6 |
Champions League | 57 | 1,10 | 50,0 | 41,2 | 85,7 | 12,3 | 10,5 |
BBL & BCL | 126 | 1,00 | 44,7 | 35,6 | 78,8 | 13,5 | 11,1 |
Wenn ein Spieler es schafft, in der „Clutch“-Zeit bessere Quoten aus dem Feld und aus dem Drei-Punkte-Bereich aufzuweisen als über die gesamte Partie, dann darf man ihm zweifellos „Clutchness“ attestieren. Denn einfacher zu punkten wird es in der Crunchtime nicht, wenn auch die Verteidigung konzentrierter sowie aggressiver agiert und viel auf dem Spiel steht.
Um eine endgültige statistische Einordnung vorzunehmen, bräuchte man Vergleiche: Wie agieren andere Akteure in der „Clutch“-Zeit? Zudem wären mehr statistische Werte relevant (dennoch zum Vergleich: In der NBA legte der beste Spieler 0,69 Punkte pro Possession in der Clutch-Zeit auf). So können jene Daten nur Tendenzen offenbaren. Beachtenswert ist sicherlich, dass Rice häufiger Freiwürfe zieht als Ballverluste begeht; jedoch können hier auch Fouls, um die Uhr zu stoppen, mit einfließen. In den engen Spielen der Champions League tritt Rice um einiges effizienter auf als in der BBL – was vielleicht auch seine KO-Mentalität anschneidet.
Denn essentiell für die „Clutchness“ sei laut Rice folgendes: „Als allererstes musst du das in dir haben, keine Frage. Du kannst stundenlang trainieren, aber wenn du nicht an dich glaubst, hat das keinen Sinn.“ Was nicht bedeutet, dass der Guard nicht an seinen Abschlüssen feilt. Als ich ihn zum Interview treffe und zuvor ein paar Minuten des Trainings verfolge, arbeitet Rice mit Individualtrainer Stefan Weissenböck an seinen Würfen. Es geht um Details wie Fußstellung und Wurfbewegung, und auch Rainbow-Dreier aus der rechten Ecke lässt Rice fliegen.
Rainbow-Dreier aus der rechten Ecke? An einen solchen Wurf werden sich vor allem die Zuschauer im RASTA Dome erinnern:
Während man derzeit in den NBA-Playoffs über ikonische Würfe sinniert, dürfte dieser einbeinige Fadeaway von Rice zumindest mit Blick auf die aktuelle Saison BBL-Saison ganz weit vorne stehen. Kleiner Nachgeschmack: Man hätte die Aktion durchaus als Schrittfehler abpfeifen können. Davon abgesehen ist es faszinierend, dass Rice bei seiner Bewegung nicht ins Aus getreten ist.
Clutch-Plays mit step-back-Jumper und Floater
Gegen Vechta wurde Rice aus dem Einwurf nach seinem Cut bedient, gegen Athen ging Rice aus dem Eins-gegen-Eins mit dem Gesicht zum Korb zum „Gamewinner“. Abschlüsse kann man grob in zwei Kategorien unterteilen: on-ball- und off-ball-Aktionen. Wie agiert Rice in Clutch-Momenten also? Was zeichnet den Bamberger Go-to-Guy aus?
Das folgende Video zeigt die Abschlüsse Rices, wenn er aus der Isolation oder als Ballführer im Pick-and-Roll agiert. Als NBA-Aficionada wird Rice die Parkplatz-Dreier Damian Lillards ebenso verfolgt haben wie um Michael Jordans ikonischen „The Shrug“ zu wissen. Zumindest kann man beides in Rices Dagger-Dreier gegen Braunschweig verorten. Die Szene gegen Ludwigsburg schneidet an, dass Rice den wohl gefährlichsten step-back der Liga besitzt. Diesen step-back gepaart mit einem Crossover-Dribbling packt der Guard auch gerne aus, um in einer zweiten Bewegung seinen Verteidiger zu schlagen. Und nach dem Drive bringt Rice gerne den hohen Floater an. Der Stirnbandträger mit Siegkorblegern.
Rice operiert viel häufiger mit den Ball in den Händen, als ballabseits eingesetzt zu werden. Um Blöcke läuft Rice eher selten, die Szene gegen Ludwigsburg des folgenden Videos zeigt aber, wie schnell Rice mit dem beidbeinigen Sprung hinter die Dreierlinie samt schnellem Release hierbei agieren kann. Nichtsdestotrotz wackelt Rices Distanzwurf.
Ins Laufen kommt Rice in der Offensive immer noch durch seine Dribblings – bringt er so zum einen seinen step-back an und penetriert zum anderen in die Zone. Wo sich Rice übrigens als starker Passgeber präsentiert: Alley-Oop-Anspiele für die Abroller, Durchstecker nach Wurffinten, schnelle Kickouts, elegante Pässe hinter dem Rücken – Rice ist als Go-to-Guy nicht (immer) Alleinunterhalter.
Das Profil als Dirigent und Scorer, der in der Crunchtime übernimmt und für viele Clutch-Plays sorgt, macht Rice zum heißen Kandidaten auf die Auszeichnung zum besten Offensivspieler der easyCredit BBL. Stimmt man hier für Rice: Wieviele (Clutch-) Aktionen aus der Champions League hat man im Hinterkopf? Allgemein zeigt sich hier nur die Unmöglichkeit der BBL-Auszeichnungen: Im kollektiven Gedächtnis verankern sich Beobachtungen aus den nationalen und internationalen Wettbewerben gleichermaßen, für die BBL-Awards müsste man aber internationale Partie ausklammern. Zudem entwickelt sich eine etwaige Hierarchie in einem Team (Stichwort: MVP) nicht wettbewerbsunabhängig.
Individuelle Auszeichnungen beiseite, es zählen kollektive Titel. So stark Brose Bamberg unter Chris Fleming und Andrea Trinchieri das vergangene Jahrzehnt in der Basketball-Bundesliga geprägt hat, ein internationaler Titel fehlt noch in der Sammlung der Oberfranken. Rice? Der hat schon die EuroLeague und den EuroCup gewonnen. Ein Champions-League-Titel würde also gut in diese Reihe passen.
Wenn es beim Final Four in Antwerpen darum gehen wird, dem Team den Hintern zu retten, werden die Bamberger wissen, über wen sie gehen. Wenn es gilt, diesen einen Wurf zu treffen. In der Crunchtime des vierten Viertels. Tyrese Rice – he’s the Fourth.
Wann trat Tyrese Rice in dieser Saison besonders stark in einer Crunchtime in Erscheinung? Eine Auflistung:
Datum | Wettbewerb | Gegner | Aktion(en) |
---|---|---|---|
10.10.2018 | BCL | 88:89 gegen Fuenlabrada | 18 Punkte im vierten Viertel |
12.12.2018 | BCL | 75:65 in Fuenlabrada | 11 Punkte in den letzten 4:22 Minuten |
19.12.2018 | BCL | 101:97 in Dijon | Dreier zum 99:97 bei 6,4 Sekunden auf der Uhr |
26.12.2018 | BBL | 78:77 in Göttingen | Gamewinner bei 7,0 Sekunden auf der Uhr |
20.1.2019 | BBL Pokal | 89:87 gegen Bonn | Gamewinner bei 7,4 Sekunden auf der Uhr |
23.1.2019 | BCL | 82:78 gegen Antwerpen | 11 Punkte in den letzten 6:45 Minuten (inklusive Dagger bei 11,3 Sekunden auf der Uhr) |
25.1.2019 | BBL | 90:85 in Jena | 6 Punkte (3/3 FG) in 81 Sekunden |
21.3.2019 | BBL | 101:95 in Vechta | 8 Punkte in den letzten 1:38 Minuten des vierten Viertels (inklusive Dreier zur Overtime) 7 Punkte in der Verlängerung |
3.4.2019 | BCL | 67:69 in Athen | „Gamewinner“ bei 5,5 Sekunden auf der Uhr |
21.4.2019 | BBL | 95:96 in Ludwigsburg | 9 Punkte (3/3 3FG) in 102 Sekunden |
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