Björn Harmsen: „Woche für Woche kneife ich mich“

„Ich hatte einen unglaublichen Selbstzweifel und Angst, keinen Job mehr zu bekommen“

Du hast 2008 beim derzeitigen spanischen Nationaltrainer Sergio Scariolo hospitiert. Ein Coach, der wie du schon sehr jung als Head Coach gearbeitet hat. Auch sehr erfolgreich: Als 29-Jähiger hat Scariolo die italienische Meisterschaft gewonnen. Hat dich das bestärkt?

Deswegen habe ich ihn auch kontaktiert. Ich bin damals in Jena entlassen worden und hatte einen unglaublichen Selbstzweifel. Das war eine Zeit, in der es gar nicht so viele hauptamtliche Trainerstellen gab. Selbst in der BBL gab es Trainer, die einen anderen Beruf hatten. In der zweiten Liga gab es vielleicht zwei oder drei hauptamtliche Trainer. Ich hatte eine unglaubliche Angst davor, dass ich gar keinen Job mehr bekomme. Ich wollte einfach raus, um nicht nur diese Gedanken zu haben, etwas anderes zu sehen und mir einen Rat zu holen.

Ich hatte durch Zufall gesehen, dass Scariolo sehr jung Trainer wurde und dann auch weggegangen ist. Dann habe ich seine E-Mail-Adresse herausgefunden, ihm geschrieben und zwei, drei Fragen gestellt. Ich dachte, er antwortet sicherlich nicht – tat dies aber sehr schnell. Er meinte, ich solle einfach nach Malaga kommen. Es war im April oder Mai, Malaga hatte in den Playoffs gegen Real Madrid gespielt. Ich dachte, dass er wenig Zeit für mich haben würde, ich hatte nur einen Hinflug gebucht und mich im Hotel einquartiert.

Dann war ich beim Training, und Scariolo hat sich schon vorher eine Viertelstunde Zeit für mich genommen. Am Tag vor dem Spiel sind sie auch im gleichen Hotel gewesen. Er meinte, dass er am Abend keine Zeit habe, aber am Spieltag, nach dem Shootaround, könnten wir uns noch einmal länger hinsetzen. Dann hat er sich zwei Stunden Zeit genommen. Das war für mich unglaublich und hat mich sehr beeindruckt – die spielen Playoffs gegen Real Madrid … Er kannte mich ja nicht. Scariolo hat mir sehr viel Selbstvertrauen gegeben – einfach von dem, was er erzählt hat.

Es tat sicherlich auch gut, in Malaga einfach weit weg zu sein.

Genau. Du hattest auch nicht wie heute die Möglichkeit, dir so viele Spiele anzuschauen, außer vielleicht EuroLeague. Dann schaust du spanischen Basketball und siehst die Spielfreude und die Ballbewegung, die es bei uns damals gar nicht gab. Außer bei Pavicevic. Das hat mir sehr viel Energie, Glaube und auch wieder Freude gegeben.

Danach kam relativ schnell die Möglichkeit, zum MBC zu gehen. Ich war dann noch einmal bei Scariolo bei der spanischen Nationalmannschaft. Ich bin ihm sehr dankbar dafür, dass er sich die Zeit genommen hat. Das sage ich auch heute: Jeder Trainer kann immer bei mir zum Training kommen. Und ich versuche mir die Zeit zu nehmen, um deren Fragen zu beantworten.

„Mir Spiele anzuschauen und Plays auszudenken, ist ein total kreativer Prozess“

Ich habe von zwei BBL-Coaches gehört, dass sie einen bestimmten Spielzug – ein Pick&Roll mit einem Back-Screen am verteidigenden Big Man – in der BBL das erste Mal bei dir gesehen haben: während deiner Zeit beim MBC bzw. in Gießen. Ein Spielzug, den viele mittlerweile als „Spain Pick&Roll“ bezeichnen – mit Bezug auf die spanische Nationalmannschaft. Hast du diesen Spielzug bei Scariolo entdeckt?

Nein. Ich hatte ja vorhin erzählt, dass ich 300 Euro im Monat verdient hatte. Ich habe versucht, mir als Autodidakt alles selbst zu erlernen: entweder, wenn ich die Möglichkeit hatte, mir Trainings anzuschauen. Oder mir alle Videos, die ich bekommen konnte, anzuschauen. Ich weiß gar nicht mehr, wie genau das kam, aber ich konnte auf die DVDs der EuroLeague zugreifen. Zeljko Obradovic ist meines Wissens der erste Trainer in Europa, der das Back-Screen Pick&Roll, so würde ich es nennen, gespielt hat. Damals mit Panathinaikos. Nicht häufig, aber ab und zu.

Ich schaue mir als Trainer ganz viele Spiele an. Gar nicht so sehr BBL, sondern gerne etwas anderes: EuroLeague, EuroCup oder ACB überwiegend. Die türkische Liga ist auch interessant. Dann sehe ich interessante Elemente. Das ist für mich ein total kreativer Prozess, der mir unglaublich viel Spaß macht. Ich setze mich dann hin und denke mir Sachen aus. Die kommen von der Idee vielleicht irgendwo her, sind aber natürlich auf meine Mannschaft angepasst.

Mit dem Back-Screen Pick&Roll war es damals auch so. Tatsächlich hat keine einzige Mannschaft in der Bundesliga das damals gespielt. Ich hatte es zufällig gesehen und dachte mir: ,Das gibt’s ja nicht, was haben die da gerade gemacht?!’ Und dann haben wir das auf den MBC angepasst, aber mit einem anderen Spielzug. Natürlich konnte das keiner verteidigen. Es gab ein Spiel in Hagen, wo wir ungefähr zu 60 Prozent nur diesen Spielzug gespielt haben. Wir hatten damals Anatoly Kashirov auf der Fünf, der von CSKA Moskau kam. Dann hatten wir Wayne Bernard sowie Radenko Pilcevic und Giorgi Gamqrelidze auf der Eins. Die haben dadurch einfach unglaubliche Freiräume bekommen, weil es schwer zu verteidigen war. Heute spielt es jeder. Dadurch kann es auch fast jeder verteidigen.

Weißt du noch, wo und wann du den Spielzug bei Obradovic gesehen hast?

Es könnte 2009 gewesen sein, als er mit Panathinaikos Athen in Berlin den EuroLeague-Titel gewonnen hat. Obradovic ist der beste Trainer, den es jemals in Europa gab. Keine Frage. Er hat die meisten Erfolge.

Ich habe mich mal mit Xavi Pascual [dem aktuellen Trainer von Panathinaikos, Anm. d. Red.] darüber unterhalten. Das war auch meine Hauptintention, als ich im vergangenen Sommer zum ersten Mal eine B-Trainerausbildung geleitet habe: Du musst dich hinsetzen, überlegen und kreativ sein. Man sollte nicht nur stupide kopieren. Es macht am meisten Sinn, nachzudenken.

Bei Obradovic finde ich es immer wieder beeindruckend, wie zusammenhängend er denkt und wie er Dinge auch komplett verändert. Dadurch ist er glaube ich auch so erfolgreich. Natürlich hat er auch ein unglaubliches Budget zur Verfügung. Damals, um 2007, hat er mit Panathinaikos auf einmal mit drei Guards gespielt, ohne Dreier: mit Vassilis Spanoulis, Dimitrios Diamantidis und Sarunas Jasikevicius. Er spielt mit drei Guards und spielt nur Pick&Roll. Das konnte natürlich keiner verteidigen, weil es drei überragende Pick&Roll-Spieler sind. Mit Fenerbahce spielt er im letzten Jahr mit Jan Vesely und Ekpe Udoh mit zwei riesigen Big Men. Und damit stellt er alles auf den Kopf und alle vor Probleme. Das finde ich sehr beeindruckend.

Hast du schon mal versucht, bei Obradovic zu hospitieren?

Nein, habe ich noch nicht, würde es aber gerne machen. Ich habe schon viele Coach Clinics bei ihm gesehen. Ich wäre damals gerne nach Athen, es hat sich aber nicht ergeben. Es fällt mir ehrlich gesagt schwer, mich zu überwinden, in die Türkei zu reisen – auf Grund der aktuellen politischen Situation. Nicht aus Angst vor irgendwelchen Dingen, die passieren könnten. Es hat für mich etwas mit meiner inneren Überzeugung zu tun. Ich wüsste auch nicht, ob ich als Trainer für viel Geld in ein Land gehen würde, in dem ich mit der politischen Führung nicht einverstanden bin. 

Um noch beim Back-Screen Pick&Roll zu bleiben: Warum scheint dieses Play in den vergangenen zwei, drei Jahren eine Renaissance zu erleben?

Durch Trinchieri. Er ist ein taktisch unglaublich guter Trainer. Genau in dem Punkt, dass er solche Elemente irgendwo sieht, die die Verteidigung vor Herausforderungen stellen, weil die Defense sie nicht kennt. Und dass er diese Elemente auf seine Spieler und andere Situationen perfektioniert hat. Mit ihm kam das Back-Screen Pick&Roll wieder in die Liga.

Dann kam der direkte Block zwischen zwei kleinen Spielern. Erinnern wir uns an Brad Wanamaker oder Janis Strelnieks. Und dann kommen Darius Miller oder Fabien Causeur, die einen direkten Block am Ball stellen. Du musst sehr schnell reagieren, wenn dein Guard ein Spieler wie Wanamaker ist, der sehr aggressiv zum Korb geht. Und wenn der Spieler, der den Block stellt, ein sehr guter Schütze ist. Dann musst du für die Switch-Situation unglaublich gut kommunizieren.

Das sind zwei Elemente, die Trinchieri wieder in die Liga gebracht und perfektioniert hat. Beide Elemente werden jetzt von allen Mannschaften gespielt. Das Back-Screen Pick&Roll von jeder. Und etwa 90 Prozent haben die „Klein/Klein“-Aktion in irgendeinem Spielzug als Element.

„Xavi Pascual ist unfassbar kreativ und intelligent“

Du hast gesagt, dass du dir gerne Spiele der ACB und EuroLeague ansiehst. Woher nimmst du noch deine Einflüsse? Und wie läuft dieser Prozess ab?

Wenn wir an zwei aufeinanderfolgenden Sonntagen ein Spiel haben, muss ich mich am Montag noch nicht mit dem nächsten Gegner beschäftigen. Montags gehe ich als erstes auf EuroLeague.TV und schaue mir zum Frühstück oder zwischendurch einfach Euroleague-Spiele an. Natürlich von Mannschaften, die ich interessant finde: vor allen Dingen Panathinaikos, CSKA Moskau, Fenerbahce, Real Madrid und in diesem Jahr Zalgiris Kaunas. Das ist ein kreativer Input. Was ich nicht mache: einen kompletten Spielzug aufzuschreiben und zu gucken, dass ich den genauso spielen lasse. Aber ich sehe Elemente, die mich kreativ beeinflussen und mich auf irgendwelche Ideen bringen. Dann schreibe ich mir Dinge heraus und kombiniere das auch in Vorbereitung auf den nächsten Gegner. So läuft mein normaler Prozess ab.

Ich finde Xavi Pascual als Trainer unglaublich interessant, weil er so ein Nerd ist, würde man wohl sagen. Er ist taktisch, was Spielzüge anbelangt, so unfassbar kreativ und intelligent. Das ist der Wahnsinn. Deswegen wollte ich auch unbedingt zu Panathinaikos. Du schaust dir die Spiele an, gehst dann aber ins Training und siehst alles noch einmal mit ganz anderen Augen.

Ich versuche immer, auch mal aus dem Saft herauszukommen. Es gibt mir einen großen Motivations-Push. Weil du über Dinge nachdenkst, den Trainingsprozess anders machst und dich versuchst zu verändern. Wir sind heutzutage ja gläsern. Wir haben jedes Video des Gegners. Der Gegner kann alles vorbereiten, du kannst alles vorbereiten. Ich will es nicht werten, aber manche Trainer sagen, es sei besser, immer das gleiche zu machen – weil deine Spieler es dann perfekt machen. Ich würde eher sagen, dass du vielleicht das gleiche Element gleich machst, aber dass du die Taktiken variierst.

„Es gibt kein Playbook für die Jungs“

Das heißt, wenn du vor der Saison ein Playbook mit Spielzügen entwirfst, ist dieses während der Saison einem großen Prozess unterworfen?

Komplett. Selbst wenn du nur einen Spieler in der Mannschaft veränderst, kann sich das gesamte Gefüge verändern, mit Stärken und Schwächen der Mannschaft. Ich habe natürlich Ideen, sehe dann vielleicht aber einen Spieler und merke, dass er Dinge nicht so gut kann, von denen ich dachte, dass er sie kann. Oder anders herum. Und dann kannst du nicht auf deiner Idee beharren. Du solltest immer hinterfragen und dir überlegen, was wichtig ist.

Ich mache auch kein Playbook mehr vor der Saison – es gibt kein Playbook für die Jungs. Viele Dinge verändern sich einfach. Ich habe zudem den Eindruck, dass die Jungs es besser auffassen, wenn du es Schritt für Schritt mit ihnen durchgehst und sie auch aufmerksam sein müssen.

Genauso machen wir es mit der Gegnervorbereitung. Wir teilen kein Playbook mehr aus, wo zu jedem Spieler zehn Sätze geschrieben sind. Es gibt einen ganz banalen Statistikzettel, beidseitig bedruckt. Da stehen das Depth Chart und die Hauptstatistiken drauf; in rot ist herausgestellt, was bedrohend ist, in grün, was wir attackieren können. Und dann gehen wir das drei Tage im Training durch. Wir haben auch die Zeit dafür. Mein Anspruch ist, dass meine Spieler von den drei Tagen – von den Dingen, die ich erzähle, und was wir trainieren – die gegnerische Mannschaft kennt. Und nicht von dem, was auf dem Zettel steht. Manchmal klappt’s vielleicht nicht. (lacht)

Du meintest vorhin, dass im Basketball schon alles da war. Gibt es trotzdem Elemente, die für dich noch überraschend kommen?

Naja, die Grundelemente sind immer die gleichen. Was „neu in Mode“ ist: dass viel mit Ablenkungsmanövern gearbeitet wird. Du zeigst der Verteidigung irgendetwas, aber die richtige Aktion kommt erst danach. Wie bei uns mit der Weakside-Aktion, damit der Rollende frei wird. Ich glaube, das wird noch deutlich mehr Einzug halten. 

Welche Rolle nimmt das Post-up in deinem System ein?

Eigentlich eine sehr große. Erst einmal immer bedingt auf den Gegner. Zudem hast du die Grundstärken deiner eigenen Spieler: Wenn McElroy auf der Zwei spielt, macht es Sinn, ihn aufzuposten. Derrick ist auch immer noch ein guter Post-Spieler. Für unser Spiel hat Allen aber eine größere Stärke im Pick&Roll.

Wir versuchen, für Post-Situationen Mismatches zu kreieren. Gegen Oldenburg haben wir es leider zum Ende hin nicht mehr so gut durchgeführt, weil sie uns ganz gut aus unserem Rhythmus bekommen haben durch ihre wechselnde Verteidigung – sie haben auch mal Zone gespielt. Was wir in den ersten drei Vierteln gut hinbekommen haben: Sie haben Mickey McConnell und Brad Loesing auf der Eins, die recht klein sind. „Mac“ und Kyle Weaver, die von Rickey Paulding verteidigt wurden, haben oben einen direkten Block an Loesing oder McConnell gesetzt, sodass ein Switch passieren muss. Wenn kein Switch passiert, kommt unser Spieler vom Blockwinkel her zum Korbleger durch. Dann ist „Mac“ oder Kyle noch um den Block des Fünfers gegangen und ins Post-up gegen McConnell oder Loesing gegangen. Da spielt es eine große Rolle. Natürlich ist es dein Hauptziel, den Ball in den Korb zu werfen. Die zweite Idee ist, die größtmöglichen Mismatches zu finden oder zu kreieren.

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