Kyrie und der König: Vater & Sohn
Im Sommer hat Kyrie Irving „King James“ verlassen. Ein aufsehenerregender Abgang, der bei vielen auf Unverständnis stieß, aber dennoch (auch für Außenstehende) verständlich ist.
Gewiss, über den Wechsel von Kyrie Irving und seine Beziehung zu LeBron James wurde bereits hinlänglich gesprochen und auch geschrieben. Ein bedeutsamer Aspekt ihrer Trennung ist indes kaum ausbuchstabiert worden. Nämlich das Mann-Sein und väterliche „Sonning“.
Vorab sei gesagt, dass Irving im Sommer mit seinem Wunsch nach einem Wechsel (den Cavs-GM Koby Altman arrangierte) eine legitime Lebensentscheidung getroffen hat – die also über den Sport und das Gewinnen hinausgeht. Zumal in einer „Liga der Starspieler“, in der sich viele Fans und Fachjournalisten mit der Entscheidungsmacht derselben dennoch schwer tun. Sie nehmen Anstoß daran, dass die Hauptdarsteller proaktiv handeln und ohne Rücksicht auf romantisierte Vorbilder und Vorstellungen (etwa von „Vereinstreue“) ihre Zukunft selbstverantwortlich mitbestimmen.
So erschüttern menschliche Akteure, die zu oft medial verzerrt als bloße „Assets“ im Dienste von Franchise-Entscheidern und Fantasy-Game-Managern erscheinen, eine unhinterfragte Normalität. Eine, in der in puncto Spielerwechsel ohnehin eine fragwürdige Doppelmoral zuungunsten der Aktiven besteht. Beispielsweise mit Blick auf die von ihnen eingeforderte, nicht selten einseitig praktizierte Loyalität. (Isaiah Thomas lässt bitter grüßen.)
Was zudem den Individual- und Teamerfolg anbetrifft, konnte sich Irving in Cleveland bekanntlich nicht beklagen. Dreimal in Folge stand der 25-Jährige an der Seite von James in den NBA-Finals, viermal in der All-Star-Auswahl und einmal im All-NBA-Team. 2016 reckte der einstige Rookie des Jahres die Meisterschaftstrophäe in den Himmel von „The Land“. Es war die vorläufige Krönung seiner jungen Karriere, zu der er durch seine Glanzleistungen in der Finalserie maßgeblich beigetragen hatte.
Gleichwohl gab es seinerseits nachvollziehbare Gründe, die Kavaliere und den Hof des „Basketball-Königs“ zu verlassen. Vor allem wirkte LeBrons überlebensgroßer Schatten auf Irving und dessen freiheitliche Impulse einhegend. Derweil der Abwanderungswille des überdominanten Franchise Players (wenn es Themen braucht) wiederholt kolportiert wird. Auch kam die Big Three um den King, Kyrie und Kevin Love eher einer Zweckverbindung und nicht einer glücklichen Einheit gleich. Während die Cavs-Offensive statistisch zwar konstant unter den Top-5 rangiert, jedoch in puncto Kreativität eher selten brilliert. (Nach wie vor fungieren James‘ Nebenmänner phasenweise als bessere Beisteher.)
Als Celtic will, soll und muss „Uncle Drew“ nun mehr Verantwortung tragen und verstärkt ein Anführer sein. Dabei möchte er an seinem neuen Wirkungsort nicht nur „der Mann“ sein, sondern mit „seinem Team“ auch weiterhin gewinnen. Dafür sind die Voraussetzungen in Boston, selbst nach Gordon Haywards Ausfall, durchaus vielversprechend (siehe der eindrucksvolle Saisonstart). Alldieweil Irving in Beantown als designierte Nummer eins freier aufspielen, den Hauptdarsteller mimen und ohne großen Schatten im Rampenlicht glänzen darf. (Nebenbei: bisher präsentiert er aber nicht nur seine Houdini-Handles und Qualität als Shot-Maker, vielmehr agiert er teamdienlich im Fluss der Offensive; und auch am defensiven Ende zeigt er sich engagierter und energiereicher.)
Bei seiner Trennung von James ging es Irving sonach um eine neue Herausforderung im Spiel des Lebens. „Es ist ein neues Kapitel in einem Buch, das ich beständig fortschreibe“, sagte ein sehr zufriedener Kelte kürzlich. Um dieses aufzuschlagen, bedurfte es aber erst einmal eines mutigen Heraustretens aus der eigenen Komfortzone und des „Königs“ Schatten. Eine selbstbewusste Entscheidung, die (zu) wenig gewürdigt wurde und nicht zuletzt um Männlichkeit kreiste. Um Respekt und Anerkennung, Dominanz und Unterordnung, Führungsanspruch und Freiräume. Um ein unaustariertes Rollenverhältnis und ein ungleiches Rollenverständnis.
Aufbegehren und Aufwachsen
Im Saisoneröffnungsspiel vor gut einem Monat, als die beiden ehemaligen Gefährten erstmals aufeinandertrafen und sich anfangs aus dem Weg gingen, schien diese Wirkmächtigkeit wiederum auf. Während der „abtrünnige Sohn“ in Cleveland ausgebuht wurde und in Grün passabel agierte, dirigierte „Alpha-Bron“ die Cavs-Offensive und dominierte in gewohnter Manier (mit einem Beinahe-Triple-Double) das Spiel. So verließen die beiden die Partie, wie sie sie begonnen hatten: James als überlegene Vaterfigur, der den aufbegehrenden, ambitionierten Youngster zum Abschied umarmte und ihm mehrmals väterlich-verträglich den Kopf tätschelte.
Gewiss haben die Rollen, die James und Irving bekleiden bzw. begehren, auch etwas mit ihrem jeweiligen Erfahrungshintergrund zu tun. LeBron wuchs in zunächst prekären Verhältnissen ohne seinen Vater auf, zu dem er bis heute keinerlei Kontakt pflegt; auch weil dieser seine damals erst 16-jährige Mutter, Gloria James, frühzeitig verlassen hatte. Eine Leerstelle in seinem Leben, die er auch durch eine antrainierte Dominanz und sein Dasein als Vorzeigeehemann und -familienvater erfolgreich bewältigt hat.
Drederick Irving, Kyries Vater, der selbst von seinem Erzeuger im Stich gelassen wurde, war hingegen für seinen Sohn von Anfang an da. Nachhaltig hat er ihn als Alleinerziehender unterstützt (Kyries Mutter verstarb, als dieser vier Jahre alt war) und auf seinem Lebensweg eng begleitet. Über seinen Paps, der zudem eine relevante Verbindung zu Boston hat, sagt der Neu-Celtic nicht umsonst: „Er ist mein bester Freund. Ich kann nicht in Worte fassen, wie viel er mir bedeutet.“ (Ihm zu Ehren trägt Kyrie im Übrigen die Trikotnummer elf.)
Irving verfügt demnach über einen großartigen Vater – er brauchte und mochte es nicht, dass James in Cleveland den Ersatz- und Übervater gibt (der seit seiner Heimkehr nach Nordost-Ohio die Franchise vor sich hertreibt und ihr seinen Willen oktroyiert). LeBrons unbewusstes „Sonning“ missfiel ihm. Er wollte nicht wie ein abhängiges Kind oder der kleine Bruder behandelt werden. Denn „Sonning“ geht mit Vorherrschaft einher und kann Entmachtung, ja Entmännlichung bedeuten. Was im Kontext der Männer- und Machowelt der NBA kultürlich von Gewicht ist.
Dass das „Sohn-Sein“ also auch negative Konnotationen aufweist, liegt nicht zuletzt in der sozial gemachten Misslage amerikanischer Familien begründet. Nämlich ausgeprägter „Einelternfamilien“ und abwesender Väter; wovon afroamerikanische Heranwachsende und Communities (Stichworte: systemische Armut, Waffengewalt und Masseninhaftierung) besonders hart betroffen sind. Einschließlich dem gesellschaftlichen Effekt angezweifelter und übertriebener Männlichkeit, der sich kulturell und eben sprachlich manifestiert.
Erwachsen und emanzipiert
Zu Saisonbeginn hatte James am Medientag versucht, über seinen abgewanderten Mitspieler positiv zu sprechen. Bezeichnenderweise nannte er ihn jedoch fünfmal „Kid“. Irving ließ daraufhin postwendend verlauten, dass er inzwischen schon erwachsen sei. „It’s really between two men. … That’s between two men“, pointierte „Uncle Drew“.
Was können wir nun aus ihrer Beziehung und dieser Episode lernen? Zunächst haben Worte kultürlich Bedeutungen und bringen Wahrnehmungen und Wahrheiten hervor, die ausagiert werden und umkämpft sind.
Zudem weist sie darauf hin, dass James – der mit Ersatzvätern (seiner erweiterten und sportlichen Familie) erwachsen wurde und frühzeitig „The Man“ war – selbst nie die Erfahrung gemacht hat, im Schatten eines dominanten Vaters zu stehen. Etwa sich dessen liebevoller Strenge zu fügen, harte Entscheidungen hinzunehmen und unliebsame Einschätzungen zu hören, sich daran zu reiben und davon frei zu machen.
Jene wertvolle Lebens- und Lernerfahrung und die daraus gewonnenen Einsichten hätten James vielleicht dabei geholfen, Irving anders zu begegnen. Schließlich gehört es zu den Herausforderungen der Altvorderen, zu erkennen, wenn die Zeit dafür reif ist, den bewährten Youngstern mehr Freiraum und die Führung zu überlassen.
Das hat der machtbewusste und meinungsstarke Chef-Cavalier wohl verpasst. Wobei es ihm sichtlich schwer fiel, Irvings Frustration zu verstehen und dessen Wechselgesuch einzuordnen. „Ich habe mich schon gefragt, ob es da etwas gab, was ich hätte besser machen können, um seinem Tradewunsch vorzubeugen“, so ein einigermaßen ratloser LeBron.
Sich in die Situation seines Co-Stars zu versetzen – der (noch) mehr Verantwortung tragen will und keiner zweiten Vaterfigur bedarf – gelang dem „Auserwählten“ nicht. Auch deswegen verließ der Freigeist „The Land“, der einst gefragt wurde, welche elterliche Rolle James für die Cavs spielen würde. Irving entgegnete seinerzeit: „Ich habe einen Vater; das ist mein Dad, Drederick Irving.“