Sergio Scariolo: „Die Finals sind kein Druck, sondern Freude pur!“

Den vorläufigen Titelgewinn haben die Toronto Raptors zwar verpasst, dennoch stehen die Chancen für das Team von Sergio Scariolo weiter gut. Im Exklusivinterview spricht der Assistant Coach über seinen herausfordernden NBA-Job, seine Doppelrolle als spanischer Nationaltrainer und die Aussichten auf die WM in China.

basketball.de: Sergio, du hast in deiner langen Trainerkarriere schon so viele Erfolge eingefahren: italienischer Meister, zweimal spanischer Meister, dreimal Europameister und zwei Olympia-Medaillen. Doch toppen diese NBA Finals, in denen ihr mit 3-2 in Führung liegt, jetzt alles?

Sergio Scariolo: Es ist extrem aufregend und eine tolle Auszeichnung, dass ich Teil der Finals sein kann. Ich habe das Glück, in meiner Karriere schon zahlreiche besondere Momente erlebt zu haben. Auf Grund all dieser Erfahrungen verspüre ich jetzt keinen Druck, dass die ganze Basketballwelt auf uns blickt, sondern einfach nur Begeisterung und Freude pur. Ich genieße jeden Augenblick. Denn die NBA Finals sind wahrscheinlich das größte Basketball-Event, in dem du beteiligt sein kannst.

Größer noch als Olympia?

Ich weiß es nicht genau. Das ist so schwer zu vergleichen. Bei Olympischen Spielen hast du eine ganze Nation, die hinter dir steht. Wobei das ja jetzt auch bei den Finals der Fall ist. Ganz Kanada drückt uns die Daumen und pusht uns – das ist phänomenal.

Und wenn du ein Ranking mit den größten Basketballmomenten deiner Karriere aufstellen müsstest …

… dann würden die NBA Finals sehr, sehr weit oben stehen. (lacht)

„Du musst in Europa viel erreichen, um eine Chance in der NBA zu bekommen“

Wenn man deinen Lebenslauf und die bereits erwähnten Erfolge betrachtet, könnte man ja sogar meinen, du wärst für den Job als Assistant Coach in der NBA überqualifiziert. Wie siehst du das?

In Europa musst du – egal ob als Trainer oder als Spieler – eine Menge erreicht haben, um die Chance zu bekommen, dich in der NBA beweisen zu dürfen. Ich bin sehr froh und dankbar, dass ich mir dieses Ansehen im Laufe der Zeit erarbeitet habe. Sobald du diese Chance in der NBA erhältst, musst du sie unbedingt nutzen.

Das scheinst du mit den Raptors ja eindrucksvoll zu tun …

(schmunzelt) Für uns alle war es eine spannende Situation, als ich im Sommer 2018 hierher kam. Denn schließlich ist es auch für unseren Head Coach Nick Nurse [zuvor fünf Jahre Assistant Coach der Raptors, Anm. d. Red.] die allererste Saison in vorderster Reihe.

Wie läuft eure Zusammenarbeit?

Nick ist ein toller Mensch, ein super Anführer und gleichzeitig ein klasse Teamplayer. Er ist sehr gut darin, Dinge zu delegieren und die Leute in seinem Umfeld einzubinden. Ich bin sehr glücklich, mit ihm arbeiten zu können.

„Während der gesamten Playoffs bin ich ausschließlich für unsere Offense zuständig“

Wie sieht dein Aufgabenbereich aus?

In unserem Coaching-Stab, der insgesamt acht Personen umfasst, gibt es drei führende Assistant Coaches. Dazu gehöre ich. Zu dritt kümmern wir uns um folgende Teilbereiche unseres Spiels: die Offense, die Defense und Special Situations. Dabei rotieren wir im Laufe der Saison, was bedeutet, dass ich ca. zehn bis 15 Spiele lang für einen der genannten Bereiche zuständig bin, bevor wir zum nächsten übergehen.

Welchen dieser drei Bereiche bearbeitest du denn am liebsten?

Alle bearbeite ich gerne. Aber um in der entscheidenden Saisonphase noch effektiver zu sein, haben wir zum Ende der regulären Saison klare Festlegungen gemacht. So bin ich nun während der gesamten Playoffs ausschließlich für unsere Offense zuständig. Mein Kollege Adrian Griffin kümmert sich um die Defense, Nate Bjorkgren um die Special Situations.

Was bedeutet denn Special Situations?

Da geht es zum Beispiel um besondere Spielzüge Ende des Viertels oder ganz zum Ende der Partie.

Wie stressig und wie intensiv kann man sich die Arbeit eines Assistant Coaches in der NBA vorstellen?

Wenn du das Spiel liebst, ist das keine so schwierige Sache. Klar, während der regulären Saison ist die Aufgabe physisch anspruchsvoll, weil du alle ein, zwei Tage auf Reisen bist und ständig ein neuer Gegner auf dich wartet. Jedes Spiel muss also aufs Neue vorbereitet, jeder Gegner vorab genau analysiert werden. In den Playoffs finde ich es dagegen angenehmer.

Warum das?

Weil du in einer Playoff-Serie immer auf denselben Gegner triffst, dich besser auf ihn einstellen kannst und außerdem weniger reisen musst. Daher finde ich das jetzt gar nicht so anstrengend.

Was deinen zweiten Job als Nationaltrainer angeht, hast du ja den Vorteil, dass viele Spanier in der NBA spielen – mit Marc Gasol und Serge Ibaka zwei sogar bei den Raptors. Doch gleichzeitig musst du ja auch die europäischen Ligen intensiv verfolgen. Hast du dafür überhaupt genügend Zeit?

Na klar. Natürlich ist es umfangreich, aber das hängt immer von deiner Herangehensweise ab. Manch andere Coaches sehen ihren Job vielleicht „nur“ als Arbeit an, für die sie eine gewisse zeitliche Kapazität aufbringen wollen. Für mich ist das jedoch keine Arbeit – für mich ist das Leidenschaft pur, weil ich Basketball so sehr liebe. Daher finde ich es großartig, sich so viel wie möglich mit diesem Sport beschäftigen zu können. Ich bin ja auch nicht nur für die spanische A- Nationalmannschaft zuständig …

… sondern?

Auch für weitere Bereiche im spanischen Basketball-Verband. Zum Beispiel hatte ich am selben Tag, als das dritte Finalspiel anstand, eine etwa 50-minütige Konversation mit unserem spanischen Nachwuchs-Koordinator. Dabei ging es um Themen, die unser U20- und U18-Team betreffen.

Am Tag eines NBA-Finalspiels? Ist das nicht Ablenkung pur?

Ganz im Gegenteil. Egal, ob ich über diesen Sport spreche, eine Partie coache oder nur als Zuschauer in die Halle komme – jede Sekunde Basketball liefert mir riesengroße Freude. Denn ich liebe diesen Sport so sehr wie am ersten Tag und kann davon kaum genug bekommen.

„Deutschland wird um die Olympia-Spots kämpfen“

Nach den NBA Finals bleibt dir kaum Zeit zur Erholung, weil danach die Weltmeisterschaft in China vor der Tür steht. Was sind deine Ziele für das Turnier?

Wir wollen uns unbedingt für Olympia qualifizieren. Das wird eine sehr schwierige Aufgabe, weil wir dafür zu den zwei bestplatzierten Teams aus Europa gehören müssen. Und um diese beiden Spots konkurrieren so viele talentierte Mannschaften. Wer es am Ende schafft, hängt von so vielen Faktoren ab.

Und zwar?

Sind deine Spieler alle gesund? Und wie steht es um die Vertragssituationen deiner Spieler? Daher ist es jetzt noch zu früh, eine genaue Prognose abzugeben.

Welche Chancen rechnest du der deutschen Mannschaft aus?

Das Team wird immer besser, weil sich die jungen Spieler stetig weiterentwickeln. Im Kader stehen eine Menge hochtalentierter Spieler, allen voran Dennis Schröder oder Daniel Theis. Daher werden auch die Deutschen um die Olympia-Spots kämpfen.