Post-Pauldingburg
Die EWE Baskets Oldenburg gehen erstmals seit 16 Jahren ohne Rickey Paulding in eine neue Saison. Der neue Head Coach Pedro Calles spricht über eine Spielzeit ohne internationalen Wettbewerb, kleine Point Guards und Playmaking-Flügel. Zudem erklärt Bryce Taylor seinen Weg zum Oldenburger Assistant Coach.
Ist das Traum oder Realität? Diese Frage werden sich vermutlich einige Anhänger der EWE Baskets Oldenburg stellen, wenn ihr Team am 2. Oktober mit einem Auswärtsspiel gegen die HAKRO Merlins Crailsheim in die neue BBL-Saison starten wird. „Wo ist der Spieler mit der Nummer 23? Der mit dem breiten Grinsen? Wo ist unser Spieler, der in 15 Jahren die Stadt zur ,Pauldingburg‘ transformiert hat?“, wird einigen durch den Kopf schießen.
Rickey Paulding wird nach seinem Karriereende in der Saison 2022/23 nicht mehr für die EWE Baskets Oldenburg auflaufen, auch wenn der 39-Jährige für Nachwuchscamps hin und wieder an die Hunte zurückkehren wird. Für die Oldenburger wird es die erste Spielzeit ohne Paulding im Kader seit 2006/07 sein. Auch wenn mit T.J. Holyfield, Bennet Hundt und Alen Pjanic drei Rotationsspieler im Aufgebot geblieben sind und mit Norris Agbakoko ein Akteur mehr Minuten sehen dürfte, diese Offseason stellt bei den EWE Baskets eine Zäsur dar. Zumal auch an der Seitenlinie ein Wechsel auszumachen ist.
„Ich habe immer noch Albträume davon“, offenbart Bryce Taylor mit halb ernst-, halb sarkastischer Mine in einem Gespräch im Oldenburger Club-Center während der Saisonvorbereitung. Der neue Assistant der EWE Baskets hat mit dem neuen Head Coach Pedro Calles nicht nur in der Saison 2012/13 bei den Artland Dragons (Calles fungierte in seinem ersten Jahr in Deutschland als Athletiktrainer) und 2020/21 bei den Hamburg Towers zusammengearbeitet, die beiden haben auch eine Geschichte in der Saison 2018/19: Damals lief Taylor für Brose Bamberg auf, Calles trainierte RASTA Vechta, und als die Cinderalla Story der Saison schaltete der damalige Aufsteiger aus Vechta mit 3-1 Bamberg im Playoff-Viertelfinale aus.
Bei Taylor ist nicht nur diese aus seiner Sicht albtraumhafte Playoff-Serie hängengeblieben, sondern auch das erste Aufeinandertreffen in der Hauptrunde. „Das war nicht einmal eng, sie haben uns den Hintern versohlt. Wir sind mit einem Rückstand von mehr als 20 Zählern in die Kabine gegangen“, erinnert sich Taylor an die damalige 67:85-Heimniederlage Bambergs im Januar 2019. „Damals hatte ich gemerkt, welch guten Basketball Pedro spielen lässt. Er hat es geschafft, seine Spieler ihren Stärken nach einzusetzen und eine Einheit zu formen. Das war beeindruckend“, führt Taylor aus. Besonders sei Taylor dabei „die Geschwindigkeit, mit der sie gespielt haben“ aufgefallen, „und wie sie getrappt haben. Sie waren defensiv so schwer einzuschätzen.“
Sind das Attribute, die man auch 2022/23 bei den EWE Baskets Oldenburg sehen wird? „Wir arbeiten zumindest derzeit daran“, hat Calles gut eine Woche vor Saisonbeginn erklärt. „Wir wollen offensiv mit Geschwindigkeit spielen. Aber um dies tun zu können, müssen wir als als erstes die Mannschaft in Form bringen. Und als Zweites muss man aggressiv verteidigen, um daraus Offense generieren zu können.“ In der vergangenen Saison stellten die Towers unter Calles das drittbeste Team nach der Hauptrunde hinsichtlich der Pace. Und sie forcierten prozentual auf 100 Possessions gerechnet die drittmeisten Ballverluste beim Gegner.
Ein Playmaking-Flügel neben Max DiLeo
Blickt auf die Offensivmittelpunkte vergangener Calles-Teams, so standen dort immer wieder Ballhandler am Flügel im Kader: wie T.J. Bray im angesprochenen Vechtaer Team, Kameron Taylor bei den Towers 2020/21 oder auch Caleb Homesley in der vergangenen Saison. Vielleicht könnte demnach Trey Drechsel (welcher auf seinem YouTube-Kanal übrigens Einblicke in das Leben „overseas“ gibt) eine ähnliche Rolle einnehmen. Der Neuzugang vom polnischen Meister Ostrów Wielkopolski übernahm in seinem letzten College-Jahr unter Dan Majerle teilweise als Point Guard, in der vergangenen Saison standen in sechs Partien der Champions League 2,5 Assists nur 1,3 Ballverluste gegenüber.
„Könnte sein“, antwortet Calles auf die Frage, ob Drechsel ein weiterer dieser Flügel-Playmaker sein werde. „Aber es ist nicht etwas, wonach ich zwingend suche. Von den genannten Teams lief am Flügel ja stets auch Max DiLeo auf. Er ist jemand, der defensiv den gegnerischen Point Guard aufnimmt, aber offensiv nicht als Point Guard agiert. Das mag einer der Gründe sein, warum es eine der Aufgaben des anderen Flügelspielers ist, den Ball nach vorne zu bringen und Entscheidungen mit dem Ball zu treffen.“
Apropos international: In dieser Saison werden die Oldenburger nicht in einem der vier europäischen Wettbewerbe auflaufen. Das hat Seltenheitswert, in den 15 Paulding-Jahren waren die Oldenburger nur dreimal nicht international vertreten: 2007/08, 2018/19 (keine Wildcard für BCL, danach Verzicht auf FIBA Europe Cup) und 2020/21 (nach der ersten Corona-Saison) nicht. Calles selbst bezeichnet sich als „Wettkämpfer, der immer auf dem höchst möglichen Niveau spielen möchte. Möchte ich international spielen? Ja.“ Doch das sei nicht alles. Oldenburg sei für ihn der richtige Ort zur richtigen Zeit, die Baskets die richtige Situation.
Manche zeichnen gerne den Unterschied zwischen Spielern, die lieber spielen als trainieren, und Trainern, die so oft möglich trainieren wollen. „Trainer wollen nunmal Dinge beheben und ihren Spielern helfen, sich zu verbessern“, erklärt Calles. In der nun freien Woche, die sich ganz um die Vorbereitung auf den kommenden BBL-Gegner drehen werde, gehe es darum, „die Spieler die ganze Zeit fokussiert zu halten.“ Die Vorteile, nicht durch Europa reisen zu müssen, sieht Calles derweil auch. Übrigens: Je zwei Jahre trainierte Calles in Vechta und Hamburg, je einmal war er mit den beiden Clubs international aktiv. Dabei wies er immer dann die bessere Siegquote auf, wenn sein Team nicht die Doppelbelastung hatte.
Calles: „Kleine Point Guards kommen mit ihren Skills in der BBL gut zurecht“
Zurück zum Oldenburger Kader: Startet Max DiLeo und verteidigt den gegnerischen Point Guard, müsste DeWayne Russell den Zweier übernehmen – als offiziell nur 1,80 Meter groß gelisteter Spieler. Da dessen Backup Bennet Hundt auch nur 1,80 Meter misst und demnach kein Komplimentärspieler auf der Eins ist, könnte die Größe (defensiv) noch zum Faktor werden. Auf der anderen Seite, und das bewies Russell in seinen zwei Jahren unter Tuomas Iisalo in Crailsheim, mag ein derart kleiner, dafür schneller, mit Dribblings begabter und Freiräume schaffender Spieler auch offensiv so wertvoll sein – kreiert er Paint Touches und damit offene Würfe für seine Mitspieler.
Fast die Hälfte der BBL könnte in dieser Saison einen Starting-Point-Guard von nicht mal sechs Fuß (1,82 Meter) stellen. So sieht auch Calles einen Trend, „in dieser Liga mehr als beispielsweise in Spanien oder Italien. In Frankreich findet man dieses Spielerprofil auch häufiger vor. Kleine Point Guards kommen mit ihren Skills in diesen Ligen und deren Besonderheiten gut zurecht.“ Für Taylor könnte jedes Team von Spielern wie Parker Jackson-Cartwright, T.J. Shorts oder DeWayne Russell profitieren, „auf Grund ihrer Spielmacherfähigkeiten, ihres Speed und ihrer Dynamik. Im modernen Basketball ist es sehr wichtig, für sich und andere Spieler Looks zu kreieren.“
Sicherlich wäre auch ein Spieler wie Bryce Taylor ein gern gesuchter Abnehmer für solche Point Guards in Drive-and-Kick-Situationen gewesen. Schließlich traf der Flügelspieler in neun seiner zwölf BBL-Jahren mindestens 39,3 Prozent seiner Dreier in der Hauptrunde, von 2015/16 bis 2017/18 legte er in drei Jahren nacheinander mindestens eine Dreierquote von 49,1 Prozent auf! Ob Taylor demnach auch ein gutes Jahr nach seinem Karriereende mit seinen Teamkollegen in einem Dreierwettbewerb mithalten könnte?
Taylor: „Wenn wir von Dreiern aus dem Stand sprechen, könnte ich jeden Spieler im Shootout schlagen“
„Ich will, dass meine Spieler immer ein hohes Level an Motivation haben – deshalb will ich sie nicht mit Bryce messen lassen“, schmunzelt Calles. „Ich habe da so ein Gefühl – ich weiß, dass Bryce immer noch sehr gut werfen kann.“ Bisher habe es noch nicht die Gelegenheit gegeben, die Spieler zu einem Shootout herauszufordern, so Taylor, „ich will ihnen nicht ihr Selbstvertrauen nehmen“, scherzt der Assistant Coach ebenso, fügt aber ernsthaft an: „Wenn wir von Dreiern aus dem Stand sprechen, könnte ich noch jeden Spieler unseres Teams im Shootout schlagen. Aber die Kondition, die sie haben, durch das tagtägliche Training, die habe ich nicht.“
Klar, Taylor kommen nun andere Aufgaben zu: Er ist der neue Assistant Coach Calles‘ und wird sich vor allem um die Spielerentwicklung kümmern. Durch eine Praktikumsstelle bei den Indiana Pacers in der vergangenen Saison habe er endgültig festgestellt, dass er ins Coaching einsteigen und nicht eine Funktion im Front Office als Scout oder General Manager übernehmen wolle.
„Müssen die Spieler an der Geschwindigkeit ihres Releases oder an ihrer Fußarbeit beim Zug zum Korb arbeiten?“ Das seien Dinge, um die sich Taylor kümmern werde. „Ich betrachte den Athleten aber auch als Ganzes: als Person und als Sportler. Wir wollen den Spielern aus einer holistischen Perspektive helfen.“ Dass Calles einen Hintergrund als Athletiktrainer besitzt, mag sicherlich nicht schaden.
Bereits nach der Towers-Saison 2020/21, nach der Taylor schließlich seine Profikarriere beendet hatte, erklärte Calles seinem ehemaligen Schützling, „dass meine Tür immer offen sein wird. Für mich hat Bryce viel Wert – und ich würde diesen Wert gerne ,nutzen‘ und ihn gerne in jede Organisation, für die ich arbeite, reinbringen.“ Ein Jahr später hat das geklappt.
Es gebe zwar immer noch Momente, in denen Taylor eine „spannungsgeladene Energie“ spüre und er am liebsten ein Trikot überziehen und auf das Feld springen würde, wie bei Oldenburgs Saisonvorbereitungsturnier in Spanien, aber den „Identitätswechsel“ zum Coach habe er bereits im vergangenen Jahr vollzogen. „Ich bin im Reinen mit dem, was ich als Spieler erreicht habe. Nun bin ich im Hier und Jetzt und will der bestmögliche Coach sein“, erklärt Taylor.
Der Mount Rushmore der BBL
Das Hier und Jetzt findet ohne Rickey Paulding statt, das ist nunmal Realität, kein Traum. Auch wenn Taylor zwölf Jahre in der BBL verbracht und dabei für sechs verschiedene Clubs gespielt hat, mit Paulding lief er nie zusammen auf. In keiner Offseason stand ein Wechsel an die Hunte im Raum, blickt Taylor zurück, welcher aber dennoch glaubt, dass er neben und mit Paulding gut funktioniert hätte. „Ich war immer sehr stolz darauf, dass ich unter jeglicher Situation und neben jedem spielen konnte. Man hat gesehen, wie gut Julius Jenkins hier gespielt hat. Vielleicht hätten wir dann einen Playmaking-Guard gebraucht, und ich hätte von der Bank kommen müssen. Aber ich glaube, das hätte funktioniert.“
Und eine Rolle neben einem der Größten, den die BBL je gesehen hat, ist auch eine dankbare Rolle. Auf die Frage, wer auf seinem persönlichen Mount Rushmore seit Beginn seiner BBL-Karriere Platz nehmen würde, nennt Taylor natürlich Rickey Paulding, zudem direkt dahinter Brad Wanamaker. „Ich denke, Will Clyburn war auch wirklich gut. Aber das ist schwer. Malcolm Delaney fällt mir noch.“
Darauf angesprochen, ob nicht auch er ein Kandidat wäre – als Spieler, der in zwölf Jahren immer in die Playoffs einzog, bei drei Finals-Teilnahmen eine Meisterschaft gewann, am Ende zu einem der besten Werfer avancierte und zudem einen ikonischen Playoff-Dunk vorzuweisen hat –, ist Taylor zunächst etwas verlegen, erklärt aber auch, dass „ich stolz darauf bin, was ich erreicht habe. Nicht nur als Spieler, ich habe es auch mit offenen Armen begrüßt, hier in Deutschland zu sein: Ich wollte immer die Sprache lernen, Interviews auf Deutsch geben. Und ich wollte anderen Menschen zeigen: Wenn du die Möglichkeit ergreifst, kannst du für dich selbst ein großartiges Leben schaffen. Auch wenn ich relativ oft die Clubs gewechselt habe, wollte ich die Liga als Ganzes immer auf eine positive Art und Weise repräsentieren.“
In manchen Dingen, wie die Anzahl an BBL-Clubs in ihrer Vita, mögen sich Rickey Paulding und Bryce Taylor unterscheiden. Doch in anderen ähneln sie sich auch. So viel lässt sich nach Taylors letzten Aussage festhalten. Auch wenn Oldenburg einen „Mount Rushmore“-esken Spieler verloren hat, vielleicht haben sie ja auch einen hinzugewonnen.