Bamberger Poststrukturalismus
Das Post-up kann ein ineffizienter Abschluss aus dem Eins-gegen-Eins sein, der Post kann aber auch eine Zwischenstation von Ballbewegung sein – wie die Brose Baskets zeigen.
Geschichte wiederholt sich. Davon gehen Kulturzyklentheorien aus, denen man beispielsweise mit Blick auf das wirre Volk Recht gebe könnte. Thema dieser Kolumne soll aber nicht die Politik, sondern der Basketball sein. Doch auch hier lassen sich Strömungen ausmachen, die jedoch in manchen Dingen noch infrage stellen, ob sich Geschichte wiederholen werde.
Derzeit scheint sich der Basketball an der Schwelle zur Skillball-Ära zu befinden. Meister werden kopiert – so mögen die Titel der Golden State Warriors und Brose Baskets aus dem vergangenen Jahr, samt Möglichkeit des Repeats, diese Evolution zu mehr Vielseitigkeit nur untermauern. Ist für den klassischen Center, dem Navigieren mit dem Rücken zum Korb, hierbei überhaupt noch Platz? Wenn sich das Spiel auch derzeit weg von der Post-Betonung entwickelt, könnte es in der Zukunft aber eine Renaissance erleben?
Um geschichtliche Strömungen festzusetzen, zu verstehen und überhaupt aufzustellen, bedient man sich der Theorie. In den 1960er und 70er Jahren kann man auf das Sammelsurium des Strukturalismus zurückgreifen, unter den auch Ferdinand de Saussures Sprach- und Zeichentheorie fällt. Entscheidend bei Saussures Semiotik ist die Unterscheidung zwischen Lautbild und Vorstellung. Ein Beispiel: Man sagt Baum, und doch wird jeder Mensch eine andere Vorstellung davon haben, innerlich einen anderen Baum zeichnen. Mancher denkt an einen Nadel-, ein anderer an einen Laubbaum.
Zurück zum Basketball: Welche Vorstellung von „Post“ in einem basketballerischen Zusammenhang hätte Bambergs Trainer Andrea Trinchieri? Und an was würde der ehemalige Berliner Coach Sasa Obradovic denken?
Wenn wir im Basketballkontext vom „Post“ schreiben, müssen wir zweierlei Dinge unterscheiden: zum einen das „Post-up“, das eine Offensivaktion darstellt; zum anderen den High- oder Low-Post, was einen Raum auf dem Feld bezeichnet, die Gegend um die Freiwurflinie oder nahe der Baseline am Zonenrand. Andrea Trinchieri wird in seinem Offensivsystem vor allem Wert auf die zweite Umschreibung legen.
Post-Analyse zum ersten Finalspiel
Es wird wenige Teams in der Beko BBL geben, die seltener den Abschluss aus dem Post-up suchen. In der Halbfinalserie gegen den FC Bayern München entfielen gerade einmal 4,1 Prozent der Bamberger Possessions auf das Spiel mit dem Rücken zum Korb. Auf der Gegenseite lag bei den Bayern dieser Wert bei ganzen 9,8 Prozent. Auch bei den Teams der anderen Halbfinalpaarung waren die Werte höher (Ulm: 6,9%; Frankfurt: 7,5%).
Unter den selbst erfassten Play-Type-Stats während der Hauptrunde von den Teams aus Bamberg, Ulm, Frankfurt, München, Berlin und Oldenburg wiesen die Brose Baskets deutlich den geringsten Anteil auf – teilweise mehr als halb so wenig. Auf Grund der geringen Stichprobe darf hierbei aber keine Endaussage getroffen, es können aber Tendenzen bestätigt werden.
Auch im ersten Finalspiel gegen ratiopharm ulm gingen die Bamberger selten über den Post, um von dort den Abschluss zu suchen. Vier Aktionen waren hierbei zu verzeichnen, was einen Anteil von 5,3 Prozent entspricht. Elias Harris war gegen Augustine Rubit per And-One erfolgreich, Nicolo Melli zog gegen Da’Sean Butler ein Foul, beging beim Aufsetzen des Balls aber auch einen Schrittfehler. Einen Ballverlust leistete sich auch Leon Radosevic, als er aus dem nahenden Doppeln Ulms den Kickout-Pass spielte.
Das Post-up mag als ineffiziente Eins-gegen-Eins-Aktion gelten. Entgegen der als Isolation umschriebenen Play-Type-Aktion vollzieht sich der Abschluss immerhin, nachdem mit dem Rücken zum Korb agiert wurde, also gar nicht der Blick auf den Korb gerichtet war. Nichtsdestotrotz mögen solche Eins-gegen-Eins-Aktionen immer wieder eine Option darstellen – wenn Mismatches auszumachen sind.
Mismatch im Post – Kickout
In folgendem Beispiel aus dem Finalsauftakt hat Bambergs Daniel Theis am Zonenrand Per Günther gegen sich. Die Ulmer hatten zu Beginn des Angriffs, ohne dass ein wirkliches Pick-and-Roll zu verzeichnen war, direkt geswitcht: Günther auf Theis, Raymar Morgan auf Janis Strelnieks. Die Bamberger sehen dieses potentielle Mismatch, bewegen den Ball auf die entsprechende Seite, auf der Lucca Staiger Theis anspielen will – doch selbstverständlich rotiert die Ulmer Help-Defense. Chris Babb lässt seinen Gegenspieler Darius Miller – im Bild in der rechten Ecke – ziehen und hilft bei Günther aus.
Doch das Anspiel im Post ist nicht zwingend nötig, das Mismatch muss nicht forciert werden. Als nächstes agiert Nicolo Melli clever und rotiert zum High-Post. Damit nimmt er seinen Verteidiger Da’Sean Butler mit, der zuvor auf der Weakside noch Melli und Miller verteidigen konnte. Miller findet in der Weakside-Ecke nun noch mehr Platz vor und wird mit einem exzellenten Skip-Pass von Staiger bedient – genau, der hat einst auch schon mal als Point Guard agiert.
Butler macht den Closeout, doch Miller hat keine Probleme, den Ulmer im Catch-and-Drive zu schlagen. Die Bamberger exerzieren nun ihr berühmtes Drive-and-Kick-Spiel. Theis, der ursprünglich das Mismatch vorfand und gedoppelt wurde, profitiert nun selbst von der Help-Defense Babbs und wird nach dem Anspiel Millers eindunken.
Mismatch im Post – Cut
Eine ähnliche Aktion spielt sich im dritten Viertel ab. Darius Miller wird von Per Günther verteidigt – das übrigens nicht nach einem Switch, sondern aus dem Einwurf heraus. Die Bamberger sehen das potentielle Mismatch, rotieren auf die linke Seite, Janis Strelnieks gibt die Anweisungen, jenes Duell zu suchen.
Hierbei ist interessant, dass Miller erst gar nicht versucht, sich vor Günther zu schieben, um ihn aufzuposten. Stattdessen dreht sich der Forward nach dem Lob-Anspiel direkt mit Blick auf das ganze Feld, um die Rotationen zu lesen. Theis cuttet Richtung Korb, zieht damit die Aufmerksamkeit Babbs auf sich. Die gesamte Ulmer Defense blickt derweil auf Miller, womit Brad Wanamaker ungestört die Grundlinie entlang schneiden und einlegen kann.
P&R Man – dritter Mann/ Kickout
Die Bamberger wiesen zum Auftakt nicht nur einen geringen Anteil bei Abschlüssen aus dem Post, sondern auch nach Pick-and-Roll-Situationen auf, wenn der Ballführer oder Blocksteller die Sequenz abschlossen. Nun fallen solche Aktionen natürlich nicht unter die Kategorie des Post-ups, doch in einem „Two-Man“-Schema mag sich ein Abschluss daraus im Raum des Posts abspielen: nach einem Drive des Ballführers oder dem Abrollen den Blockstellers.
Kontinuierlich exerzier Trinchieris Truppe das Pick-and-Roll aber so, dass es über zwei Spieler hinausgeht. In folgendem Beispiel sind ganz vier Akteure direkt involviert (der fünfte steht zwar passiv in der Ecke, sorgt aber genau damit für Spacing und beeinflusst somit die gegnerische Verteidigung):
Janis Strelnieks läuft ein Pick-and-Roll mit Leon Radosevic, der zum Korb abrollt. Nicolo Melli tritt aus der anfänglichen HORNS-Aufstellung heraus und wird von Strelnieks angespielt.
Über Melli als dritten Mann wird Radosevic als abrollender Blocksteller bedient. Der hält den Ball jedoch nicht lange und spielt Miller per Kickout-Pass an – der Forward netzt einen seiner acht Dreier ein.
Querpass, Anspiel in den Post, Kickout: ein besonders harmonischer Dreiklang in Trinchieris Orchester – welches hier sicherlich auch davon profitiert, dass mit Taylor Braun und Chris Babb zwei Ulmer Spieler zur Help-Defense kommen; Babb hätte hierbei einen bei seinem Mann bleiben und den Kickout-Pass verteidigen sollen.
Abschluss im Post – nach Cut
In der Vorschau zu dieser Finalserie wurde die Option Bambergs thematisiert, Per Günther in das Verteidigen im Post zu zwingen. Wenn die Ulmer nicht gerade switchten, sah sich Günther dieser Defensivaufgabe nicht konfrontiert – bis auf eine Sequenz Mitte des dritten Viertels:
Die Bamberger Big Men Melli und Radosevic stehen in der HORNS-Aufstellung. Wanamaker gibt auf Melli ab, rotiert auf die Weakside – nicht aber ohne einen Block von Radosevic gestellt zu bekommen. Dieser Aktion ist wichtig: Sie impliziert den Einsteig in einen Spielzug; und sie beschäftigt Wanamakers Verteidiger Taylor Braun.
Denn dieser hat damit nicht im Blick, was hinter ihm passiert: Strelnieks ist in die Zone gecuttet und wird von Melli durch das Fronten Günthers per Lob-Anspiel bedient. Braun schafft es zwar noch, zur Hilfe zu kommen und sich vor Strelnieks positionieren – weiß aber nicht mehr einzugreifen, als die Arme in Verteidigungsposition zu heben. Strelnieks netzt den Layup ein.
Strelnieks kommt hier zwar im Low-Post-Bereich zum Abschluss, hat aber keinen Post-up genutzt – sondern einen Cut. Dies mag nur eine Play-Type-Differenzierung sein, zeigt aber, welche Aktion weit effizienter ist.
Mismatch im Post – Ballbewegung
Folgender Video-Clip demonstriert noch einmal die ganze Stärke Bambergs aus dem/ im Post. In beiden Aktionen wird Nicolo Melli nach einem Switch im Post angespielt – ein potentielles Mismatch. Doch anstatt das Aufposten zu suchen, dreht sich Mellis erst so, um die Aktion auf dem Feld zu lesen. In beiden Fällen wird das Doppeln kommen. In der ersten Aktion scheint die Auflösung der Sequenz noch spontan und birgt Ballverlustpotential in sich.
Doch was die Bamberger in der zweiten Sequenz zeigen, zeugt von einem Lernprozess innerhalb kürzester Zeit, eine noch bessere Lösung zu finden: der Flare-Screen Theis’ für Zisis, der sich an die richtige Stelle der Weakside positioniert; der direkte Cut; die Positionierung Millers, um den Kickout-Pass auf Zisis zu spielen.
Post-Strukturalismus
Das Offensivspiel Bambergs im und über den Post ist bei weitem kein Einbahnstraßenbasketball, der nur das antiquierte Aufposten kennt. Vielmehr ähnelt es mit seiner modernen Struktur einem Kreisverkehr: kein Halten nötig, der Ausstieg immer möglich – und Vorfahrt hat Bamberg.
Die Brose Baskets sind eine Maschine. Doch das Mitschwingen eines Roboterhaften wird ihnen nicht gerecht, beweisen der Trainerstab um Trinchieri doch so viel Kreativität und seine Mannen auf dem Parkett Instinkt, Spielverständnis und damit Spielfreude. Vielleicht sind sie eher so etwas wie Cyborgs.
Das passt auch gut zur eigentlichen wissenschaftlichen Strömung des Poststrukturalismus, wenn man Michel Foucaults Denken über die Auflösung des Subjekts heranzieht. Der Poststrukturalismus sah den Strukturalismus kritisch; das sollte schon auf Grund des Präfixes auf der Hand liegen. So wird beispielsweise die zuvor angesprochene Semiotik problematisiert – Sprache ist nun mal ein dynamisches Konstrukt.
Denn was bedeutet nun der Post bzw. ein Post-up in Trinchieris Philosophie? Und wo sind überhaupt noch die Grenzen zwischen den einzelnen Offensivaktionen, wie sie in Play-Type-Statistiken aufgegliedert werden, zu ziehen?
„Dabei könnte man den Übergang vom Strukturalismus zum Poststrukturalismus als Wechsel von einem endlichen zu einem unendlichen Analysekontext verstehen“, schreibt Claus Pias in seinem Beitrag in Stefan Webers herausgegebenem Buch „Theorien der Medien“. Eine passende Umschreibung für den Basketball Trinchieris, wie er ihn doch in der BBL so sehr geprägt und beeinflusst hat.
Outside the box
Geschichte wiederholt sich… Wird „Freak City“ zur „Sweep City“ mutieren und die Ulmer mit den Besen aus den Finals kehren? Und damit den ersten Playoff-Sweep innerhalb der BBL seit 2002 in die Geschichtsbücher schreiben? Werden die Bamberger gegen ratiopharm ulm mit 3-0 gewinnen, wie schon im letztjährigen Halbfinale und in der 2012er Endspielserie?
Es wäre der sechste Meistertitel innerhalb der vergangenen sieben Jahre.
Gut, dass Andrea Trinchieri in seinen dann zwei Jahren in Bamberger auch die gebührende Anerkennung erfahren haben würde. Wie mit dem Titel des Trainers des Jahres. Ach…