Jeremy Lin: „Der Linsanity-Hype hat mir nicht nur gut getan“
Im Trikot der New York Knicks schrieb Jeremy Lin eine der außergewöhnlichsten NBA-Geschichten aller Zeiten. Im Interview verrät er, welche Auswirkungen der enorme Rummel hatte und weshalb er nun in Toronto besonders viel Verantwortung tragen muss.
basketball.de: Jeremy, kannst du dich noch an den 4. Februar 2012 zurückerinnern?
Jeremy Lin: Ich kann mir schon vorstellen, auf was du anspielst. (schmunzelt)
Von der Bank aus kommend, hast du an diesem Abend 25 Punkte, fünf Rebounds und sieben Assists aufgelegt – der Startschuss für die legendäre „Linsanity“ bei den New York Knicks …
Das ist eine Zeit, an die ich immer und ewig in meinem Leben zurückdenken werde. Zuvor bin ich zwischen der NBA und der D-League gependelt und wusste nicht genau, wie es mit mir weitergeht. Sogar ein Wechsel nach Europa stand im Raum. Doch plötzlich hat es richtig Klick gemacht.
Nach dem 4. Februar 2012 wurdest du von Coach Mike D’Antoni erstmals in die Startaufstellung beordert, hast 136 Punkte in fünf Partien erzielt – NBA-Rekord für einen Starting-Five-Neuling!
Manchmal ist es ja so, dass im Basketball verrückte Dinge passieren. Und genau so etwas geschah in dieser Phase. Eine ganz besondere, unfassbare Zeit. Doch im Nachhinein betrachtet, hat es meiner Karriere nicht nur gut getan.
„Der Hype hat einen großen Druck erzeugt“
Wie meinst du das?
Der Hype, der um mich herum herrschte, war enorm. Alle Augen haben plötzlich auf mich geschaut. Dadurch ist ein großer Druck erzeugt worden.
Zumal du danach deine Top-Leistungen nicht mehr so konstant abrufen konntest und insgesamt sechsmal den Club gewechselt hast …
Ich muss ganz ehrlich gestehen, dass es mir lieber gewesen wäre, meine ganze Karriere nur bei einer Franchise zu verbringen – nach dem Vorbild von Dirk Nowitzki oder Kobe Bryant. Aber so ist unser Business. Ich will mich nicht beschweren, sondern bin froh und dankbar, diese unfassbare Zeit bei den Knicks erlebt zu haben.
Wie ist deine Gefühlslage, wenn du jetzt in einem anderen Trikot im New Yorker Madison Square Garden gastierst?
Es ist immer wieder außergewöhnlich. Als ich kürzlich mit den Raptors dort gespielt habe, wurde ich bei jedem Freiwurf gefeiert. Es ist schon etwas Besonderes zu spüren, immer noch einen Platz im Herzen der Knicks-Fans zu haben, obwohl ich seit sieben Jahren nicht mehr dort spiele.
Nach den Knicks warst du bei den Houston Rockets, L.A. Lakers, Charlotte Hornets und Brooklyn Nets, ehe du im Sommer 2018 bei den Atlanta Hawks gelandet bist …
Das Team befindet sich im Umbruch, weshalb das keine einfache, aber doch schon sehr spannende Station war. Ich will die Zeit bei den Hawks nicht missen. Ich bin dankbar, dass ich zum Beispiel miterleben durfte, wie sich Trae Young zu einem der besten Rookies entwickelt. Oder wie Vince Carter mit seinen 42 Jahren noch performt.
Allerdings lösten die Hawks im Februar deinen Vertrag auf, woraufhin dich die Toronto Raptors unter Vertrag nahmen – und du plötzlich die Chance auf die Meisterschaft hast!
Es ist schon kurios, wie schnell sich manche Dinge im Sport ändern. Ich bin sehr glücklich, jetzt mit 30 Jahren in einer Situation zu sein, möglicherweise um den Titel zu spielen. Trotzdem darf man es nicht unterschätzen, dass ein bisschen Geduld erforderlich ist, bis ich in allen Spielzügen voll drin bin. Das geht nicht von heute auf morgen. Speziell bei einem Team wie den Raptors, bei denen der Fokus auf dem Teamplay liegt.
„Auf uns Playmakern lastet besonders viel Verantwortung“
Wie kannst du dem Team in den Playoffs helfen?
Ich bringe Energie und Tempo von der Bank, führe die zweite Unit an und versuche als Playmaker, dass alle meine Teamkollegen in die Spielzüge involviert werden. Auch wenn wir mit Kawhi Leonard einen besonderen Einzelkönner in unseren Reihen haben, probieren wir es mehr als andere NBA-Teams, den Ball laufen zu lassen, anstatt ins Eins-gegen-eins zu gehen.
Das ist sonst in der NBA ja ziemlich weit verbreitet …
Stimmt. Doch wir probieren es mit einem etwas anderen Basketball-Stil. Dadurch lastet auf uns Playmakern der Raptors besonders viel Verantwortung.
In der regulären Saison habt ihr 58 Spiele gewonnen, eines mehr als der amtierende Meister Golden State. Nur die Milwaukee Bucks (60) waren besser. Wen siehst du nun als Hauptkonkurrent?
Darüber mache ich mir noch keine Gedanken. Denn für mich geht es persönlich erst mal darum, im System der Raptors noch besser zurecht zu kommen. Erst wenn die Playoffs etwas länger andauern, schaut man mehr nach rechts und links, wer sonst noch im Rennen ist. Aber klar ist, dass die Bucks ein ganz starker Konkurrent im Osten sind, weil sie sich diese Saison so konstant präsentieren.