Marcus Lindner: „Manche Spieler empfinden das als Einschnitt ins Privatleben“
Trainingsüberwachung mittels GPS, Herzratenvariabilitätsmessung über die Cloud: Marcus Lindner arbeitet bei UNICS Kazan auf höchstem Standard. Im Interview gibt Lindner Einblicke in das Leben als Athletiktrainer, das auch die Themen Schlaf, Ernährung und Lifestyle umfasst.
basketball.de: UNICS Kazan hat kürzlich ein Video veröffentlicht: „A day in the life of Jamar Smith“. Dort erzählt Smith, dass er nach dem Aufstehen sich stretche oder schon mal meditiere und dass nach dem Mittagessen eine Runde Schlaf anstehe; man sieht ihn beim Kochen. Wie viel davon ist auf dich zurückzuführen?
Marcus Lindner: Ich hoffe, viel. Das ganze Lifestyle-Thema wird immer größer. Wir überwachen ja, wie die Körper der Spieler auf das Training reagieren – hierbei erfassen wir auch die ganzen Lifestyle-Faktoren. Wir erhalten dabei einen ganz guten Überblick, was im Leben der Spieler los ist und wie sich auch nicht-trainingsbezogener Stress auf sie auswirkt. Ich bereite gerade ein Manual für die nächste Saison vor: Wie muss ich als Athlet leben? Wie muss ich die Lifestyle-Faktoren managen? Schlaf steht dabei an erster Stelle, dann kommt die Ernährung, dann Dinge wie Meditation oder Strategien zur Stressbewältigung. Das soll nicht nur im Spiel, sondern auch im Alltag helfen.
Jay [Jamar Smith] ist einer der professionellsten Spieler, die ich kenne. Er kocht für sich und hat seine Routinen vor dem Training, da geht es auch um karriereverlängernde Maßnahmen, die er auch zuhause erledigt. Melvin Ejim und Maurice Ndour machen beispielsweise Yoga. Ich kann mich nicht beklagen: Ich habe viele Jungs, die ordentlich mitziehen, und meine Arbeit hat hier einen großen „Buy-in“ .
Auf der Homepage von UNICS wirst du als „Coach for Physical Training“ bezeichnet. Man findet auch mal Begriffe wie „Physical Performance Coach” oder „Strength and Conditioning Coach”, im Deutschen schlicht „Athletiktrainer”. Welche Bezeichnung trifft es am besten, um dein ganzes Arbeitsspektrum bei UNICS Kazan abzudecken?
Ich mag die Bezeichnung „Strength and Conditioning“ überhaupt nicht, weil es nur die zwei sportmotorischen Eigenschaften beleuchtet, da wirst du dem Rest nicht gerecht. Die Bezeichnungen „Athletiktrainer“ und „Physical Performance Coach” finde ich gut. Es geht ja um die körperliche Leistungsfähigkeit – und das ist Athletik. Athletik heißt, dass du körperlich bereit bist für eine Aufgabe. Was übrigens auch „Fitness“ bedeutet, aber „Fitness“ hat so einen negativen Anstrich, da denkt man an Aerobic-Hausfrauen. Aber fit für eine Aufgabe sein, ist Athletik. Das umfasst alle koordinativen und konditionellen Faktoren, den Lifestyle sowie Neurotransmitterdominanz der Athleten – da spielt heutzutage alles rein.
Seit 2015 bist du für UNICS tätig, davor hast du für Brose Bamberg und die Deutschen Nationalmannschaft gearbeitet. Warum hat es dich 2500 Kilometer östlich nach Kazan an die Wolga gezogen?
Ich wollte immer ins Ausland gehen und dort Erfahrung sammeln. Ich hatte über eine Stellenausschreibung mal ein wenig Kontakt zur NBA. Da bin ich als einziger Europäer bis in die letzte „Recall-Runde“ gekommen. Es gab mehrere Interviewgespräche, du wurdest immer weitergegeben: vom Präsidenten bis zum Perfomance-Staff. Laut deren Aussage war ich unter den letzten drei Kandidaten, habe es aber am Ende leider nicht geschafft. Das hat eine Wunde hinterlassen, die immer offen geblieben ist.
Wann war das?
Das war nach meiner Zeit in Bamberg, ich wurde dort wie der ganze Trainerstab ja beurlaubt. Ich wollte eben unbedingt ins Ausland, alleine diese ganzen Interviews waren eine gute Erfahrung. Irgendwann hat mir mein Agent erzählt, dass UNICS Kazan jemanden suche. Dann habe ich meine Bewerbung und meinen Lebenslauf abgegeben – und alles ging ganz schnell. Ich war im Urlaub in Holland und musste mich innerhalb von zwei, drei Tagen entscheiden.
„Ich war unter den letzten drei Kandidaten bei einem NBA-Team“
Wie groß war für dich die Umstellung von Deutschland zu Russland, schon allein wegen der kyrillischen Schrift?
Davon verstehe ich auch gar nichts. (schmunzelt) Ich weiß gerade mal, was „Kaffee“ heißt – das hilft mir, meine Kaffeeläden zu finden. Wenn ich zum Flughafen fahre, dann fahre ich knallhart dem Flugzeug-Symbol hinterher.
Fiel dir das Einleben dennoch einfacher?
Für mich war das anfangs total schwierig, weil ich erst keine Hilfe hatte. Ich habe von meinen Spielern und den damaligen Trainern gelernt; das hat gut ein halbes Jahr gedauert. Jetzt würde ich sagen, dass ich mich nach dieser Erfahrung überall auf der Welt zurechtfinde. Was ich gelernt habe: Du musst rausgehen, deine Kreise ziehen und versuchen, alles kennenzulernen, und mit den Leuten zu interagieren. Du darfst nicht zuhause hocken und warten, bis irgendwann mal jemand zu dir kommt. Jetzt ist es eine total tolle Erfahrung, ich kann jedem nur ans Herz legen, ins Ausland zu gehen.
Was war bei dir eigentlich zuerst vorhanden: das Interesse an Basketball oder das Interesse an den Athletikbereich?
Basketball. Ich habe in der Grundschule Basketball gespielt, später im Verein und habe ein wenig in den Amateurligen gespielt.
Als ich im Abitur das Prüfungsfach Sport hatte, war mir aber schon klar, dass ich in den Bereich wollte. Das war erst auf Basketball bezogen, mittlerweile würde ich mich als Athletiktrainer für Athleten in den Teamsportarten und Rückschlagspielen bezeichnen.
Spieler oder Trainer fragt man gerne nach deren Vorbilder. Wie sieht es bei dir aus: Hattest du Vorbilder oder Mentoren im Athletikbereich?
Du lernt das Grundgerüst natürlich an der Sporthochschule, aber das ist meist so wissenschaftsbezogen und eher praxisfern, dass du da nicht von Vorbildern sprechen kannst. Als ich angefangen habe, zu studieren, gab es das Internet, wie wir es heutzutage kennen, noch gar nicht: mit der ganzen Informationsflut. Mit der Zeit hat sich das Berufsbild entwickelt, hierzulande vor allem um das Jahr 2006 und dem damaligen Fußball-Nationaltrainer Jürgen Klinsmann, in den USA bereits zehn Jahre zuvor. Das Berufsbild hat sich dann immer weiter professionalisiert.
Ich habe einmal Rich Dalatri (damals New Jersey Nets) kennengelernt, einer der ersten professionellen Vollzeit-Athletiktrainer in der NBA. Das war 2011 in Izmir, als wir mit der deutschen Nationalmannschaft gegen die Ukraine gespielt haben. Mike Fratello war damals ukrainischer Nationaltrainer, Dalatri Teil seines Staffs. Ich kannte Dalatri nur vom Namen her und wusste nicht, wie er arbeitet. Generell sind meine Vorbilder im Athletiktraining fast alle aus Nordamerika.
Angenommen, UNICS Kazan würde demnächst eine Ausgabe „A day in the life of Marcus Lindner“ drehen. Wie würde das Video einsteigen?
Ich versuche immer, gegen sechs Uhr aufzustehen – egal, ob wir uns auf Auswärtsreisen befinden oder ob ich zuhause bin. Als allererstes trinke ich zwei Gläser Wasser, dann schütte ich Kaffee auf und lese erstmal eine Stunde: ein paar Seiten im Buch, zwei, drei Artikel. Ich mache mir Notizen und versuche, das Gelesene zu verinnerlichen; optimalerweise höre ich noch einen Podcast.
Nach dem Aufstehen schicke ich den Spielern über unsere WhatsApp-Gruppe einen Fragebogen mit einer Body-Chart. Dort markieren die Spieler, ob und wo ihnen etwas weh tut. Dazu erfolgt ein objektiver Parameter: eine Herzratenvariabilitätsmessung. Das Ganze wird in die Cloud geschickt und dort schon ausgewertet. Das heißt, aus dieser „Black Box“ werden mir prozentuale Werte ausgespuckt. Ich werte das hinsichtlich der Fragen aus: Wer befindet sich wo im Trainingskontinuum? Wer driftet in den Bereich Übertraining ab? Ich kommuniziere mit der medizinischen Abteilung, und aus diesem ganzen Datenmeer gebe ich Empfehlungen an den Trainer: Müssen wir Spieler rausnehmen, müssen wir für einzelne Spieler das Training modifizieren, oder durchlaufen sie ganz normal das Training?
„Die Spieler tragen einen Herzfrequenzgurt mit Bluetooth-Sensor, ich kriege die Werte über die Cloud“
Wie genau kann ich mir die Herzratenvariabilitätsmessung vorstellen? Tragen die Spieler „Wearables“ über Nacht?
Nur am Morgen. Wenn sie aufstehen, dürfen sie pinkeln gehen, aber sonst erstmal nichts und müssen wieder in die Horizontale, um zur Ruhe zu kommen. Dieser Schnellerholungstest von FIRSTBEAT dauert drei Minuten, sie tragen einen Herzfrequenzgurt mit einem Bluetooth-Senor, der mit einer App gekoppelt ist. Wenn sie den Test beenden, kriege ich die Werte über die Cloud geschickt und kann diese auf meinem Coach-Monitor einsehen: das jeweilige Profil eines Spielers sowie das Mannschaftsprofil.
Das stellt schon einen gewissen Einschnitt in das Leben der Spieler dar. Welche Erfahrung hast du allgemein gemacht, was die Akzeptanz eines solchen Tools betrifft?
Das ist leider noch nicht so verbreitet und immer noch recht neu. Die Spieler, die schon länger hier sind, kennen das, alle anderen empfinden das am Anfang schon als Einschnitt ins Privatleben und in die Lebensqualität. Aber irgendwann verstehen die Spieler auch, dass wir unsere Entscheidungen darauf basierend treffen. Und dann macht das für sie auch Sinn.
Wie geht dein Arbeitstag dann weiter?
Ich arbeite gerne von zuhause aus, da habe ich einen sehr schönen Schreibtisch – in der Halle habe ich kein Tageslicht. Dann will ich wenigstes einen halben Tag das wertvolle Tageslicht in Russland abbekommen. (lacht) Wenn ich morgens Spieler zu betreuen habe, fahre ich gegen neun Uhr zur Halle. Wir versuchen, uns sehr nach dem amerikanischen Modell zu orientieren: Die jüngeren Spieler kommen morgens rein und erledigen ihre Extraaufgaben; die Spieler, die ein höheres Trainingsalter haben, kommen abends.
Wenn ich keine Spieler am Morgen zu betreuen habe, mache ich mich am späten Mittag, frühen Nachmittag auf den Weg. Ich trainiere dann selbst eine Stunde, dann kommen die ersten Jungs, etwa eineinhalb Stunden vor dem Training. Manche bereiten sich mit ihren PRIME Routinen vor, was ganz grob deren Gewebehygiene, Dehnungstoleranzhygiene und Stabilitätshygiene beinhaltet. Hygiene heißt ja auch, dass man etwas täglich macht: wie Zähneputzen oder Duschen. Andere bearbeiten ihre Schwächen. Meistens dreht sich das um die Bereiche Krafttraining, spezifische Gewandtheit, Schnelligkeitstraining sowie Sprungkrafttraining. Dann geht es ins Abendtraining,
Wie geht es dort weiter?
Wie fangen direkt mit der Belastungsvorbereitung an. Dann gehen wir durch funktionale und ballistische Bewegungsmuster; wir versuchen, nicht nur das muskuläre System, sondern auch das Nervensystem auf die bevorstehende Arbeit vorzubereiten. Wenn ich mit dieser Belastungsvorbereitung fertig bin, übernimmt meistens ein Skill-Coach oder ein Assistant Coach. Und dann geht es in die „X and Os“, ins Fünf-gegen-Null, ins Fünf-gegen-Fünf in allen Formen. Währenddessen sitze ich am Spielfeldrand und mache die Herzfrequenzaufzeichnung und überwache das Live-Monitoring.
Und nach dem Training?
Dann geht es zurück in den Kraftraum, wo die Jungs ausgedehnt werden. Manche fahren auf dem Fahrrad aus, manche gehen auf dem Laufband aus, andere gehen direkt zum Physiotherapeuten, andere erledigen Extraarbeiten – das ist alles sehr individualisiert.
Du hast eben erwähnt, dass die Herzratenvariabilitätsmessung nicht so verbreitet sei. Kannst du einen Vergleich ziehen zwischen den Möglichkeiten, die du bei UNICS hast, und anderen europäischen Vereinen?
Im europäischen Vergleich gibt es glaube ich kaum Teams, die mehr machen. Vielleicht arbeiten ein paar Teams mit solchen Trainingsüberwachungs-, Belastungs- und Beanspruchungs-Überwachungs-Tools, aber nicht viele. Es gibt immer wieder Vereine, die von GPS-Firmen aufgeführt werden, wenn es zum Beispiel um objektive Trainingsüberwachung geht. Aber wenn man nachfragt, kommt heraus, dass sie diese nur zwei Monate getestet haben. (schmunzelt)
Viele Teams tun dies mit subjektiven Tools wie Fragebögen und einem sogenannten „Rating of Perceived Exertion“ nach dem Training. Dann müssen die Jungs eine Bewertung von eins bis zehn abgeben, wie sie das Training empfunden haben. Das machen wir auch, um das Training zu quantifizieren. Was unsere Testbatterie betrifft, haben wir zwar noch nicht den Goldstandard mit einer Kraftmessplatte erreicht, aber wir haben schon sehr viel Gadgets am Start und durchleuchten die Spieler ganz gut.
„Mit GPS kannst du sehen, wieviele Antritte, Sprints und Sprünge ein Spieler gemacht hat“
Du erwähnst GPS. Wie ist das System in das Training eingebunden?
Du hast damit nicht nur ein intern-physiologisches Feedback, das du von der Live-Herzfrequenz-Messung bekommst, sondern kannst es mit objektiven externen Daten hinterlegen. Zum Beispiel: Warum hatte der Spieler heute dieses Herzfrequenzprofil im Training? Dann kannst du dir anschauen, wieviel er im Training gelaufen ist und wieviele Antritte, Sprints und Sprünge er gemacht hat. Wenn du sowohl intern-objektive, als auch auch extern-objektive Parameter hast, kannst du das alles in eine bessere Perspektive rücken.
Das erinnert mich ein wenig an die SportsVU-Daten, die die NBA dank vieler Kameras in den Arenen erfasst und auf ihrer Homepage veröffentlicht. Die Möglichkeiten, viele Daten zu sammeln, sind enorm gestiegen.
Bei uns ist Fußball der Vorreiter, die NBA hat den gleichen Standard wie bei uns der Fußball. Das ist total spannend für uns, führt aber natürlich auch dazu, dass sich der Basketball immer weiter professionalisieren muss. Es reicht dann nicht mehr, nur einen Athletiktrainer zu haben, sondern man müsste eigentlich einen Performance-Stab haben: einen Sportwissenschaftler, der sich mit Trainingsüberwachung, Leistungsdiagnostik und Beanspruchungsüberwachung auseinandersetzt. Der zusammen mit dem Athletiktrainer daraus Trainingsinterventionen ableitet. Und eben einen Athletiktrainer, der für das Athletiktraining und die Rehamaßnahmen zuständig ist. Um das wirklich seriös zu betreiben, wären zwei Leute die Minimalaufstellung.
Das heißt, ich stoße hier schon an die Grenzen meiner Leistungsfähigkeit, wenn ich drei Bereiche abdecken muss: Rehabilitation und Prävention, das eigentliche Athletiktraining, also „meat and potatoes“, sowie die Trainingsüberwachung, Leistungsdiagnostik und Beanspruchungsüberwachung.
Du musst also mit sehr vielen Informationen und Daten arbeiten. Inwieweit ist es eine Herausforderung, in diesem Datenmeer nicht den Kopf zu verlieren und das Wichtigste herauszufiltern?
Ja, man muss eine gute Datenbank haben, die das dann teilweise schon weiterverarbeitet. Ich habe mir das alles selbst beigebracht und meine hervorragenden statistischen Fähigkeiten bemüht. (schmunzelt) Das habe ich über die Jahre hier ziemlich gut entwickelt, das hilft mir. Bei der Datenauswertung jedes Mal von null anzufangen, wäre gar nicht machbar. Es gäbe natürlich auch noch professionellere Lösungen, wenn du eine Athleten-Management-Software kaufen würdest – das wäre der Goldstandard.
Um zurück auf deinen Arbeitstag und auf einen Spieltag zu gehen: Wie verfolgst du eigentlich eine Partie?
Während des Spiels habe ich zwei Aufgaben: Zum einen notiere ich mir die Spielzeiten: Wer geht wann rein und kommt wieder heraus? Manchmal haben Spieler Minutenvorgaben, manchmal haben wir eine gewisse Minutenverteilung vorgegeben. Ich kommuniziere dann über die Assistant Coaches, wenn es etwas anzumerken gibt.
Zum anderen schaue ich mir natürlich an, wie sich die Jungs bewegen: Bewegt sich jemand falsch? Vertritt sich jemand? Die Jungs sind alle tough und wollen durchspielen, aber wenn es falscher Stolz ist, ist es natürlich Blödsinn, wenn sich daraus eine langwierige Verletzung ergibt. Wenn ich irgendetwas sehe, gehe ich in Auszeiten direkt auf die Spieler zu und frage sie, was los ist. Das bespreche ich auch mit unserem Arzt oder Physiotherapeuten, die das meistens aber schon mitgekriegt haben – dann hängen wir zu dritt am Spieler.
„Beim Essen im Hotel haben wir schon viele böse Überraschungen erlebt“
Welche deiner Arbeitsbereiche gewinnen an einem Spieltag am stärksten an Relevanz?
Zum einen die Belastungsvorbereitung. Zum anderen legen wir sehr großen Wert darauf, dass jeder Spieler auch am Spieltag seine individuellen Hausaufgaben macht. Jeder soll in unserem Modell bleiben, damit die Verletzungswahrscheinlichkeit verringert wird.
Außerdem kümmere ich mich um das Essen: um das Menü selbst und wann gegessen wird. Ich lege fest, wann der Mittagsschlaf erfolgt und wie wir reisen – was natürlich im Vorfeld stattfindet; zudem kümmere ich mich um die Regeneration nach dem Spiel: dass die Post-Game-Shakes und die Riegel bereitliegen, dass wir zügig ins Hotel gehen und möglichst zügig essen. Wenn wir weiterreisen: dass wir etwas Ordentliches über einen Lieferservice bestellen – nicht, dass wir am Flughafen in irgendeiner Burgerbude hocken.
Das klingt nach einem sehr krass getakteten Zeitplan.
Ja, das stimmt. Es ist vor allem wichtig, mit dem Hotel zu kommunizieren und am Tag zuvor noch einmal das Menü durchzugehen – da haben wir schon zu viele böse Überraschungen erlebt: dass Dinge vergessen wurden. Oder wenn wir auf Vollwertkost wert legen, dass es weiße Nudeln statt Buchweizennudeln gab. Oder dass es keine gegrillte Hähnchenbrust gab, sondern paniertes Hähnchenschnitzel, was triefend im Fett lag – was die Spieler natürlich gerne gegessen haben. (lacht)
Im anfangs erwähnten Video nennt Jamar Smith „Borschtsch“ seine russische Lieblingsspeise. Sollten Profisportler das essen?
(schmunzelt) Das würde ich am Spieltag nicht empfehlen, weil es wegen des ganzen Kohls für den Verdauungstrakt zu schwer ist. Aber an Tagen, an denen es der Zeitplan zulässt: klar, das haben wir auch schon mal auf dem Menü stehen. Ich mag es ehrlich gesagt nicht so.
Zum Thema Ernährung habe ich vor einiger Zeit einen interessanten Artikel auf Bleacher Report gelesen, der unter anderem eine Studie des Harvard Sports Analysis Collective zitiert, nach der das durchschnittliche Gewicht eines NBA-Spielers abnehme und man deswegen auch vom „Skinnyball“ sprechen könne. Zudem wird der Trend zu mehr vegetarischer und sogar veganer Ernährung angeschnitten. Kannst du hierbei auch einen Trend ausmachen?
Vorweg: Es ist relativ offensichtlich, was für eine Freak-Show die NBA geworden ist. Es gibt da einen TED-Talk von David Epstein, wie sich die Sportarten entwickelt haben: Vom 19. zum 20. Jahrhundert sei das Idealbild eines Sportlers gewesen, dass alle gleich aussehen – vom Kugelstoßer bis zum Basketballer. Über die Zeit entwickelte sich das zu immer mehr „Freaks“ in den Sportarten. Wenn du „The Greek Freak“ oder Kevin Durant ansiehst, bestehen die ja nur noch aus Armen und Beinen; das steht im krassen Gegensatz zu Spielern wie Charles Oakley oder Anthony Mason. Das kristallisiert sich auch immer mehr im Athletiktraining heraus: Das Training, das in den 1980er und 90er Jahren vorgeherrscht hat – was ja schon im Bereich Bodybuilding oder gerade noch so im Powerlifting angesiedelt war –, wird immer seltener. Gott sei Dank.
Zur vegetarischen und veganen Ernährung: Das ist ein ganz großes Thema, auch bei uns. Die Leute beschäftigen sich immer mehr damit, auch mit organischer bzw. biologischer Ernährung, weg vom Industriellen. Ich habe letztens gelesen: Wenn du ein Ernährungsmittel bewerten willst, sollten möglichst wenig Sachen auf dem Label stehen – damit du nicht so viele weiterverarbeitende Produkte hast.
Gerade vegane Ernährung kann ich einem Profisportler aber nicht empfehlen, denn es fehlen u.a. Vitamin B12 und langkettige Omega-3 Fettsäuren. Eine für Athleten besser geeignete Ernährungsweise ist eine natürlich-biologische, die Fleisch enthält. Damian Lillard ist ein Beispiel dafür: Er hatte einige Monate auf vegane Ernährung umgestellt und hat enorm viel Gewicht verloren. Er konnte das mit Blick auf seine Leistungsfähigkeit auch nicht aufrechterhalten.
In der Entwicklung des Basketballs zum oft zitierten „Skillball“ ist zu beobachten, dass große Spieler immer mobiler sein sollen – wenn es beispielsweise um Switches in der Verteidigung geht. Ein 2,21-Meter-Hüne wie Kristaps Porzingis hat offensiv auch Ballhandling-Qualitäten. Als er sich schwer verletzt hat, habe ich mir die Frage gestellt, ob die Körper jener großen Spieler überhaupt auf dieses mobile Spiel ausgelegt sind.
Bei diesen großen Spielern wie Kristaps Porzingis sehe ich das nicht so als Problem. Die Population der Basketballer hat ja eh eine gewisse Dysfunktion, das zieht sich fast durch alle Spielpositionen und ist auch der Sportart geschuldet. Aber wenn solche großen Spieler nach der Selektion übrig bleiben, dann zeichnen sie sich ja durch eine ausreichend gute Mobilität und Bewegungskontrolle aus. Was in meinem Verständnis eher zu solchen Verletzungsbildern führt, ist die fehlende Abbremskraft und Stoppkraft. Jenen großen Spielern fehlen hierbei eher die Grundlagen. Und natürlich ist die zu große einseitige Belastung durch zu viele Spiele ein großer Faktor.
„Ich verstehe das Leben als ,Legionär’, als Ausländer jetzt“
Im NBA-Kontext war in den jüngeren Vergangenheit „Mental Health“ ein großes Thema, Spieler wie Kevin Love oder Chris Bosh haben sich dahingehend geöffnet. Schneidet der mentale und psychologische Bereich deine Arbeit auch an?
Ja, das spielt total in den Bereich Coaching hinein: Wie baust du eine Verbindung zum Spieler auf? Es gibt ja ganz unterschiedliche Charaktere, du holst die Jungs an ganz verschiedenen Stellen ab. Ich würde mich nie als „Mentaltrainer“ bezeichnen und bin auch kein Experte darin, aber es gehört schon zu meinem Handwerkskasten. Ich lese viel zum Thema Mentaltraining und Psychologie. Wenn ich über einen Artikel stolpere, der gut und verständlich geschrieben ist und der einen Mehrwert besitzt, dann leite ich ihn den Spielern weiter.
Dieser Auslandsaufenthalt hat mir enorm weitergeholfen, um das Leben als „Legionär“, als Ausländer zu verstehen: mit was für Ängsten, Sorgen und Problemen die Jungs konfrontiert sind, weit weg von der Familie, der Heimat zu sein, in einem fremden Land mit einer fremden Sprache.
Ende des vergangenen Jahres habe ich mit Javon McCrea über das Thema Mental Health gesprochen. Im Zuge dessen frage ich mich auch, ob das Thema für US-Spieler „overseas“ noch relevanter ist.
Ich denke schon. Ich merke selbst, wie hart es ist, weit weg von der Familie zu sein. Alleine hier ist es ja noch schwieriger, weil du vieles nicht verstehst, jemanden fragen musst und dann mal niemanden findest, der Englisch sprechen kann. Das ist alles nicht so einfach – alles aber auch nicht so schlimm.
Aber nach zehn Monaten kommst du in gewissen Bereichen an deine Grenzen. Dann ist es für uns Trainer hier, die ja alle Ausländer sind, einfacher nachzuvollziehen, was die Spieler durchmachen und wie sie empfinden. Dann müssen wir das Training anpassen oder die Ansprache an die Spieler ändern. Ich denke, in meinen Jahren hier ist uns das ganz gut gelungen. Man lernt jedes Jahr dazu, nicht nur in eine Richtung, ich lerne auch täglich viel von meinen Spielern – abgesehen von der neusten Musik. (lacht)
Du sprichst die lange Spielzeit an. Wann ist die Saison eigentlich für dich beendet?
Meistens habe ich nach dem letzten Spiel hier noch eine Woche Arbeit. Oft laufen ja die Verträge der Spieler aus, dann verabschieden sich alle. Spieler, die länger bei uns unter Vertrag stehen, werden manchmal für eine Woche weggeschickt, kommen dann wieder und durchlaufen eine Testbatterie und erhalten danach ihren Offseason-Plan.
Neue Spieler erhalten nach Vertragsabschluss eine Nachricht von mir. Ich hole erste Informationen ein: vom Spieler selbst, vom ehemaligen Athletiktrainer und vom ehemaligen medizinischen Stab. Dann erstelle ich für den Spieler ein Offseason-Programm.
Nach einer langen Offseason klingt das für dich persönlich nicht.
Die läuft in der Ferne ab. In Bamberg war das komplett anders: Da habe ich zwei Wochen Urlaub gemacht und dann mit den ganzen Prospects, mit deutschen Spieler, die hier waren, und mit den Nationalspielern gearbeitet. Aber hier haben wir alle nur Zehn-Monats-Verträge. Das heißt, die Leute verabschieden sich und gehen für zwei Monate weg. Die ganze Betreuung läuft von der Ferne ab. Das ist mir auch ein Dorn im Auge. Ich denke, das müsste man nach dem NBA-Vorbild lösen: Dort verabschieden sich auch alle in alle Himmelsrichtungen, aber der Athletiktrainer reist um die Welt, trainiert für eine oder zwei Wochen mit den Spielern und begleitet sie direkt vor Ort.
Wer Marcus Lindner auf Social Media folgen will, um Einblicke in seine Arbeit als Athletiktrainer zu erhalten, kann dies auf Instagram und Facebook tun.