Thorsten Leibenath: „Ich habe die Mannschaft mit dem Playbook überfordert“

Nach einem holprigen Start hat sich ratiopharm ulm gefangen. Thorsten Leibenath erklärt die Gründe für den schwachen Auftakt, wie Tim Ohlbrecht helfen kann und warum das letztjährige Team eine Ausnahmemannschaft war.

Die einzige Konstante ist Veränderung. Heraklit schrieb dieses Oxymoron dem Universum zu. Man muss kein Philosoph sein, um diesen Aphorismus auch in der Schnelllebigkeit des Profisports wiederzufinden – kann aber darüber philosophieren, was solche Veränderungen ausmacht. In der Basketball-Bundesliga eignet sich mit Blick auf die jüngere Vergangenheit ratiopharm ulm als gutes Beispiel.

Die Mannschaft von Head Coach Thorsten Leibenath startete mit vier Niederlagen in die aktuelle BBL-Saison. Auch die Spielzeit 2015/16 hatte für die Ulmer holprig begonnen (Auftaktbilanz: 2-7) – ehe sie sich fingen und als Hauptrundensiebter sogar die Endspielserie erreichten. Ein anderes Bild in der vergangenen Saison: BBL-Rekord mit 27 Siegen in Serie, Hauptrundenprimus – nur um im Playoff-Halbfinale trotz Heimvorteil die Segel streichen zu müssen. Die einzige Konstante ist Veränderung.

Kann man aus den Veränderungen der Vergangenheit etwas für die Gegenwart lernen? Hat Thorsten Leibenath der Rückblick auf 2015/16 beim Start in diese Saison geholfen? Der Ulmer Trainer muss im Gespräch mit basketball.de Anfang Januar ein wenig überlegen, erklärt dann aber, „dass jede Schwächephase isoliert betrachtet werden muss. Es gibt nicht dieses Allheilmittel, wie man aus einem schwächeren Start wieder herauskommt und daraus eine erfolgreiche Saison macht. Das ist uns vor zwei Jahren gelungen – ich habe jetzt aber kein Rezept ableiten können, das ich Eins-zu-Eins verwenden kann.“

Ob die aktuelle Saison erfolgreich verlaufen wird, kann kurz nach Rückrundenauftakt noch nicht beantwortet werden. Aber immerhin fuhren die Ulmer in den November- und Dezemberwochen acht Erfolge in Serie ein, um aktuell mit einer positiven Bilanz (10-7) auf dem achten Platz zu rangieren. „Man überprüft permanent, was man besser machen kann und anders machen muss, damit man erfolgreicher spielt“, führt Leibenath aus.

„Wir hatten zu wenig Präsenz unter dem Korb“

Wie vor zwei Jahren ging auch in dieser Saison der Umschwung mit einer Neuverpflichtung einher, welche auch verletzungsbedingt war: Jerrelle Benimon kam Mitte November nach Ulm, sechs BBL-Siege hintereinander folgten.

„Wir hatten einfach ein klares Problem: zu wenig Präsenz unter dem Korb, zu wenig Größe, zu wenig Masse. Dies ist durch den Ausfall von Tim Ohlbrecht entstanden“, erklärt Leibenath. Die Prognosen zu Ohlbrecht seien zu Saisonbeginn deutlich positiver ausgefallen. Als es aber nicht mehr eine Frage von Wochen, sondern Monaten gewesen war, reagierten die Ulmer.

Mit Benimon sieht Leibenath auch die Verteidigung verbessert. In der vergangenen Saison hatte der Ulmer Trainer die Stärken von Raymar Morgan und Augustine Rubit unter anderem damit herausgestellt, dass die beiden Big Men auch den gegnerischen Shooting Guard über 40 Minuten verteidigen könnten. „Da haben wir nicht mehr ganz so die Qualität“, muss Leibenath zugegeben, sieht aber Potential bei seinem Neuzugang. „Jerrelle Benimon ist die positive Ausnahme, der [auch gegnerische Zweier vor sich halten] kann und in dieser Hinsicht ähnliche Qualitäten wie Raymar Morgan hat.“

„Wir switchen in diesem Jahr nahezu gar nicht – weil es einfach nicht geht“

Nichtsdestotrotz musste Leibenath sein Defensivsystem justieren. „Wir switchen in diesem Jahr nahezu gar nicht – weil es einfach nicht geht. Wir müssen deutlich mehr unsere großen Jungs in Korbnähe halten und unsere kleinen Jungs an der Drei-Punkte-Linie verteidigen lassen“, stellt Leibenath heraus. Neben den Abgängen beweglicher Big Men wie Morgan und Rubit hat dies auch mit dem Personal auf dem Flügel zu tun.

„Die Kleinen sind etwas kleiner und dadurch nicht ganz so in der Lage, die großen Jungs in Korbnähe zu verteidigen. Das konnten Taylor Braun, Chris Babb und Da’Sean Butler sehr, sehr gut.“ Babb mit 1,96 und Braun mit 2,01 Metern brachten deutlich mehr Größe auf den Flügel als dies aktuell bei den Startern Ismet Akpinar (1,90m) und Ryan Thompson (1,98m) der Fall ist. Ulms Big Men müssen auch deshalb näher am Korb verteidigen, „weil wir sonst zu große Probleme im Rebound-Bereich haben. Das war letztes Jahr auch nicht der Fall.“

Dennoch nimmt Akpinar als Starter eine wichtige Rolle ein. Zu Beginn der Saison kam der EM-Teilnehmer noch von der Bank aus ins Spiel. „Ich habe nicht unbedingt erwartet, dass ich Izy starten werde – habe aber festgestellt, dass es der Mannschaft gut tut“, begründet Leibenath die Umstellung. „Er hat sich die Position in der Ersten Fünf letztlich dadurch verdient, dass er defensiv mehr angeboten hat – als ich beispielsweise von Trey Lewis zu Beginn der Saison bekommen habe.“

In seinen jungen Jahren in Hamburg noch vornehmlich als Scorer aufgefallen, könnte auch Akpinar eine Veränderung durchmachen. „Mittelfristig erwarte ich von ihm, dass er unser bester Verteidiger ist. Das Potential dazu hat er“, blickt Leibenath voraus.

Eine konstante Veränderung erlebt(e) auch Da’Sean Butler. Innerhalb der aktuellen Neun-Mann-Rotation ist der Forward neben Per Günther der einzige Spieler, der auch vor zwei Jahren schon im Ulmer Kader gestanden ist. Butler begann die Saison von der Bank, rutschte nach sechs Partien aber in die Startformation. Das scheint sich auszuzahlen: 48,0 Prozent seiner Dreier trifft Butler seitdem, davor waren es 26,3 Prozent.

Gerne eröffnet Leibenath eine Partie oder ein Viertel mit einem Spielzug, in dem Butler nach einem ballfernen Block an der Baseline zum Abschluss kommen kann (siehe Video). Mit Blick auf die Skillball-Elemente seines letztjährigen Teams sieht Leibenath in Butler ein wenig den „Prototyp“ – nicht verwunderlich, dass Butler auch schon mal auf die Drei rutscht. Gerade nach dem Abgang von Toure‘ Murry und der Rückkehr von Tim Ohlbrecht könnte dies noch öfter passieren.

„Tim Ohlbrecht gibt uns eine neue Dimension“

Apropos: Mit Ohlbrecht haben die Ulmer im Grunde einen weiteren Neuzugang in ihren Reihen. Am 30. Dezember 2017 gab der Center sein Saisondebüt und absolvierte sein erstes Pflichtspiel nach fast genau einjähriger Verletzungspause. Und auch Ohlbrecht könnte laut Leibenath die Verteidigung verbessern: „Es ist schon etwas anderes, wenn ein Guard penetriert und Tim oder beispielsweise Luke [Harangody] vor einem steht. Und das hat ausschließlich etwas mit der Größe zu tun“, weiß Leibenath um die Vorzüge eines 2,10-Meter-Manns.

Offensiv gibt Ohlbrecht dem Ulmer Spiel weitere Facetten – auch durch seine Größe: „Du kannst den Ball einfach Richtung Ringnähe passen, und er streckt seine Arme hoch, wird ihn oben fangen und reinlegen. Das kannst du so mit Isaac Fotu, Luke Harangody oder Jerrelle Benimon nicht machen.“

Manchmal habe Ohlbrecht noch die Tendenz, zu sehr im Pick-and-Pop zu agieren – dann „nerven wir ihn: ,In gewissen Situationen musst du tief rollen.’ Wenn er das tut, ist er eine beeindruckende Option unter dem Korb“, sagt Leibenath und führt mit Blick auf Ohlbrechts Spiel als Blocksteller aus: „Oftmals gibt es ja auch den Hockey-Assist, der zu einfachen Punkten unter dem Korb führen kann – da gibt uns Tim eine neue Dimension.“

Wann Ohlbrecht diese Vorzüge wird einsetzen können, bleibt abzuwarten. Zu wenig Spielpraxis hat der Center bisher gesammelt, um wirklich einen Faktor darzustellen. Aus der Big-Men-Riege hat bislang Isaac Fotu überzeugt und vielleicht auch etwas überrascht. Das Spiel in München ausgenommen, präsentiert sich der neuseeländische Nationalspieler vor allem zuletzt als effektive Offensivoption: Fotu macht wenig Fehler, rollt stark ab und beweist sein Händchen nicht nur beim Hakenwurf in der Zone, sondern ab und an auch von außen.

Vor allem Fotu überzeugt als Blocksteller im Pick-and-Roll: 78,9 Prozent seiner Feldwürfe trifft der Big Man in diesen Aktionen für 1,48 Punkte pro Possession.

„Das Playbook ist ein deutlich größerer Prozess als in den Jahren davor“

Sehr viele einfache Punkte generierten die Ulmer zu Saisonbeginn nicht. Denn auch in der Offensive taten sich die Ulmer schwer, die vielen Neuzugänge schienen erst zueinanderfinden zu müssen. Womit Leibenath auch bei seinem Offensivsystem ansetzen musste:

„Das Playbook ist in diesem Jahr ein deutlich größerer Prozess als in den Jahren davor“, erklärt der Ulmer Coach. „Das hängt damit zusammen, dass ich gewisse Dinge falsch eingeschätzt und die Mannschaft mit dem Playbook überfordert habe. Obwohl ich noch nicht ansatzweise da war, wo ich sein wollte, mussten wir zu Beginn der Saison deutlich reduzieren.“

Leibenath weiß aber auch um die taktische Aufnahmefähigkeit seiner letztjährigen Truppe, mit der man „wahrscheinlich ein Stück weit verwöhnt“ gewesen sei: „Ich kann ehrlicherweise behaupten, dass ich hier und da gedacht habe, wir könnten taktisch mehr verdauen als wir es wirklich können“, reflektiert Leibenath.

„Vielleicht war die letztjährige Mannschaft in dem Zusammenhang auch eine Ausnahmemannschaft. Wenn du Spieler wie Braydon Hobbs, Karsten Tadda, Raymar Morgan oder Chris Babb hast, dann kannst du ihnen sehr viel taktisch zumuten – und sie können das verarbeiten. Vielleicht habe ich gedacht, dass das mit den diesjährigen Neuen genauso weitergehen würde.“

Offensiv stechen von den Neuzugängen des Sommers sicherlich Ryan Thompson und Trey Lewis heraus. Thompson in seinen davor zwei Jahren, Lewis in seinem ersten Jahr in der BBL haben bewiesen, dass sie zu den stärksten Scorern der Liga gehören – auch im Eins-gegen-Eins.

„Ich wünsche mir, dass wir mit den offensiven Möglichkeiten die wir haben – gerade auch mit Ryan und Trey –, dahin kommen können, insgesamt etwas freier zu spielen. Das ist übrigens auch etwas, was Per Günther und seiner Spielweise sehr entgegenkommen würde“, macht Leibenath deutlich, erklärt aber: „Auch da sind wir etwas langsamer, wie ich das erhofft hatte. Um als Mannschaft zu funktionieren, müssen wir derzeit in einem etwas starreren Konzept bleiben als ich das vor der Saison erwartet habe.“

Lewis agiert als Ulmer noch nicht konstant, führte die Mannschaft dennoch zur Aufholjagd in Bamberg, auch wenn dort letztlich eine 77:80-Niederlage zu Buche stand. Thompson scheint hingegen auf einem besseren Weg: In den vergangenen sieben Partien punktete der Small Forward sechsmal zweistellig. Er sucht mittlerweile stärker den Wurf von außen, findet aber auch häufiger den Weg an die Freiwurflinie – das macht ihn weniger berechenbar für die gegnerische Verteidigung.

Beim jüngsten 81:79-Auswärtserfolg in Erfurt erzielte er nicht nur per Drive aus dem Eins-gegen-Eins den Gamewinner, er übernahm komplett in der Crunchtime: Zwölf Punkte und drei Assists erzielte er in den letzten sechseinhalb Minuten! So holprig eine Saison auch verläuft – wohl dem, der einen solch versierten Offensivspieler in seinen Reihen weiß (Thompson in Isolationen in den vergangenen sechs Spielen: 1,04 PPP; 50% FG; 23,1% FT Freq; 19,2% TO Freq).

TOP FOUR als weiterer Wendepunkt?

Gegen Bamberg leitete Lewis stellenweise den Spielaufbau ein. Er als Shooting Guard und Thompson als Small Forward laufen im System Leibenaths das Pick-and-Roll auch als Ballführer. Durch Murrys Abgang, Luka Babics Debüt und Ohlbrechts Rückkehr könnten sich Minutenverteilungen, Rotationen und Aufgaben erneut verändern, das System weiter auf dem Prüfstand stehen. Die einzige Konstante ist Veränderung.

Was ohne Zweifel auch positive Auswirkungen haben kann. „Man kann so eine Saison natürlich sehr schnell umkehren“, antwortet Leibenath auf die Frage, ob gerade nach diesem holprigen Saisonstart die Ausrichtung des BBL TOP FOURs eine Chance bietet. „Wobei ich mich auch dagegen wehre, zu sagen, alles in dieser Saison sei schlecht – dann gewinnt man nicht acht Spiele in Folge.“

Dennoch biete das Pokalturnier eine tolle Möglichkeit – eine, mit der man „ein bisschen den Mantel des Schweigens über schwächere Phasen gerade aus der Hinrunde legen“ könnte, weiß Leibenath. „Man stelle sich nur mal vor – man darf ja träumen –, wir gewinnen das Ding. Dann ist hier sofort wieder Euphorie. Und dann werden auch Spieler, die vielleicht von den Fans momentan kritisch betrachtet werden, auf Händen getragen.“


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