Aus dem Schatten
Die deutsche Nationalmannschaft startet mit einem überzeugenden Erfolg gegen Frankreich in die Europameisterschaft. Vor der Partie ereignet sich der erste Höhepunkt, als Dirk Nowitzkis DBB-Trikot unter die Hallendecke gezogen wird.
Lange Zeit stand jeder deutscher Basketballer im Schatten des großen Blonden. Dirk Nowitzki führte die deutsche Nationalmannschaft zu WM-Bronze 2002, EM-Silber 2005 und den Olympischen Spielen 2008. Der Power Forward schrieb sich mit einer Meisterschaft samt Finals-MVP-Titel und einer einzigartigen Loyalität in die Annalen der NBA, er revolutionierte das Spiel.
Am Donnerstagabend zum Start der Europameisterschaft 2022 warf Nowitzki noch einmal einen großen Schatten, oder vielmehr: sein Trikot. Denn Nowitzkis DBB-Jersey mit der Nummer 14 hing während der Partie des aktuellen DBB-Teams gegen Frankreich hoch oben an der Hallendecke der Kölner LANXESS arena. In einer langen Zeremonie – unter anderem mit dem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und vor den Augen von Luka Doncic nach dem Sieg seines slowenischen Teams zuvor gegen Litauen – hatte der DBB vor Spielbeginn Nowitzkis Trikot zurückgezogen, die Nummer 14 wird kein deutscher Nationalspieler je mehr tragen.
„Ich habe für mein Land immer alles gegeben. Das bedeutet mit sehr, sehr viel“, zeigte sich Nowitzki über die Ehrung gerührt – blickte aber zugleich in die Gegenwart: Mit einem „Auf geht’s Deutschland!“ wünschte er dem 2022er Team alles Gute und klatschte beim Abgang vom Parkett die einlaufenden deutschen Spieler ab. Als würde er – nach der EM 2015 bei seinem DBB-Karriereende – endgültig das Zepter an die nächste Generation überreichen.
„Das war Motivation pur“, blickte Dennis Schröder auf diesen Moment. „Er hat das so unglaublich verdient. Er hat deutschen Basketball jahrelang getragen. Alle in Deutschland lieben ihn – er ist einfach eine Legende“, führte Niels Giffey aus. Und Schröder, der 2015 bei besagter EM noch seine Anfänge in der Nationalmannschaft gemacht hatte und noch nicht so recht in die Fußstapfen Nowitzkis treten konnte (gut, wer kann das auch…), meinte zudem: „Wir versuchen natürlich, auch ihn stolz zu machen.“
Und das haben Schröder und Co. getan. Denn mit einem überzeugenden 76:63-Erfolg über Frankreich ist die DBB-Auswahl in das Turnier gestartet und hat mit einem ersten Sieg über einen Medaillenkandidaten die eigenen Ambitionen unterstrichen.
„Maodo Lo bringt so viel Spice ins Spiel“
„Maodo Lo ist der nächste deutsche Spieler, der in die NBA kommen wird.“ Dennis Schröder mag für einen 29-jährigen Guard vielleicht eine etwas gewagte Prognose gestellt haben, gab Lo aber nach dessen Leistung gegen Frankreich auch die verdiente Anerkennung. Denn, so Schröder: „Er hat uns am Ende den Push gegeben.“
Lo war mit zwei wenig überzeugenden WM-Qualifikationsspielen in der EM gestartet – doch zeigte gegen Frankreich mit seinen Crossover-Dribblings direkt Spielfreude. Nach der Pause explodierte der Berliner dann: In den letzten 13 Spielminuten markierte Lo zehn seiner 13 Punkte und verteilte drei seiner fünf Assists. Tänzelnd kam er in der Zone zu Abschlüssen, mit step-backs verschaffte er sich Platz, und vor allem mit einer Szene riss er die Zuschauer aus den Sitzen:
Zweieinhalb Minuten vor Ende des zweiten Viertels lief Lo den Fastbreak, täuschte den Pass hinter seinem Rücken auf den mitgelaufenen Dennis Schröder an – zog den Ball aber durch, hatte ihn damit einmal um sich selbst gespielt und steckte am Ende doch auf Schröder durch. Der feierte, nicht nur einmal, seinen Guard-Partner ab.
„Er bringt so viel Spice ins Spiel, das ist was Besonderes“, fand auch Niels Giffey. Und Franz Wagner beschrieb Lo wie folgt: „Er ist ein sehr kreativer Spieler. Er bringt Ruhe rein, aber auch gleichzeitig so etwas Verspieltes, was einem immer Energie gibt. Er hat heute klasse gespielt: Er hat die Offense im Griff gehabt und ein paar sehr wichtige Würfe getroffen.“ Wie Mitte des vierten Viertels erst einen Floater, dann einen Dreier zur Zwölf-Punkte-Führung.
Berliner Einfluss in Köln
Überhaupt die Berliner: Zum Topscorer avancierte Johannes Thiemann. Mit 14 Punkten, sechs Rebounds und einem schier fehlerlosen Spiel bewies der Big Man, warum er den Titel des amtierenden Finals-MVPs der BBL mit sich trägt. Thiemann brachte nicht nur den gewohnten Hustle, sondern bewies mit seiner Spielintelligenz in der Offensive, dass er sich vom ALBA-Teamkollegen Luke Sikma einiges abgeschaut hat. Tänzeln wie Lo? Thiemann brachte aus einer fast „Dream Shake“-gleichen Bewegungen einen Hakenwurf Endes des dritten Viertels an.
Weit zuvor, Ende des ersten Durchgangs, poppte Thiemann nach dem Pick-and-Roll nach außen, attackierte per Drive seinen Gegenspieler Rudy Gobert und arbeitete den Ball per And-One in den Korb. Noch wichtiger: Thiemann hing der NBA-Krake damit sein zweites Foul an, der Defensivanker Frankreichs war damit lange Zeit aus dem Spiel. Überhaupt war es das Pick-and-Pop, mit dem das deutsche Team nach einer zähen Anfangsphase seinen Rhythmus fand.
Einen dieser Dreier versenkte Niels Giffey. Wie Lo und Thiemann setzte der Forward starke Akzente von der Bank, mit 13 Zählern (3/4 3FG) schien sich Giffey nach einer schwierigen Saison bei Zalgiris Kaunas und keiner überzeugenden Vorbereitung etwas den Frust von der Seele zu schießen. „Ich freue mich einfach, mit dem Team zu spielen“, sagte Giffey dazu. „Wir sind eine Gruppe. Wir kennen uns alle so lange. Das sind meine Jungs, wir sind extrem eng zusammen. Da ist es einfach gut, einfach zu spielen, mit so viel Energie zu spielen.“
Lo, Thiemann, Giffey: Sie alle standen gemeinsam Ende des dritten Viertels auf dem Parkett, als das deutsche Team sich das Momentum holte. Dazu Dennis Schröder und Johannes Voigtmann. Mit einem 14:3-Lauf in den letzten drei Minuten beendeten sie den dritten Durchgang und brachten dem deutschen Team die 57:43-Führung ein. Am Ende hatte Frankreich dem nichts mehr entgegenzusetzen, da die Spielfreude eines Maodo Los auch auf seine Mitspieler abzufärben schien.
„Wir haben einfach ganz viele talentierte Spieler“
Denn letztlich hatten auch andere Spieler ihre Momente: Mit Franz Wagner ein vierter (ehemaliger) Berliner, der nach Crossover-Dribblings Evan Fournier ausstiegen ließ und zum Korb zog sowie Rudy Gobert narrte und über den Center einen Jumper traf. Dennis Schröder fand zwar nicht seinen Wurfrhythmus, spielte mitunter riskante Pässe und hatte nur Mitte des dritten Viertels mit zwei Drives seine neue Frisur des goldenen Blitzes untermauert, ließ aber auch in der Schlussphase Elie Okobo und Gobert mit einem starken Dribble-Fake aussteigen. Und Johannes Voigtmann (nach Switches als Passgeber in Mismatches), Nick Weiler-Babb (als „Point of Attack“-Verteidiger) und Daniel Theis waren auch in wichtigen Momenten da.
So schlüpfte Theis nach seiner Verletzungspause direkt wieder in die Rolle des Schröder-Partners im Pick-and-Roll. Auch defensiv machte sich sein Einfluss bemerkbar, wo das deutsche Team überhaupt extrem gut stand und aggressiv Ballverluste forcierte. „Er macht all die Dinge, die wichtig sind, um ein Spiel zu gewinnen“, freute sich Schröder über die Rückkehr Theis‘. „Hoffentlich kann er die Energie, die er uns gegen Frankreich gebracht hat, uns im Turnierverlauf weiterhin geben.“
Schröder selbst traf nur vier seiner 14 Würfe aus dem Feld für elf Punkte, Franz Wagner kam durch nur sechs Abschlüssen aus dem Feld auf acht Zähler – und dennoch hatte das deutsche Team keine Probleme. „Wir haben einfach ganz viele talentierte Spieler“, sagte Franz Wagner zur Tiefe des Kaders. „Ich finde es einfach cool, dass alle die Chance bekommen und dass alle zeigen, was sie können. Und dass auch alle das Selbstvertrauen haben, reinzugehen und dem Team zu helfen.“
So schwer die EM-Vorbereitung auch gewesen ist, das deutsche Team hat bislang gezeigt, wie sehr es sich steigern kann. Im Lauf der Testspiele, über die WM-Quali-Partien, hin zum EM-Auftakt selbst. „Wir können solche Partien wie gegen Frankreich spielen, wir können so wie gegen Slowenien abliefern – wir können ein gutes Turnier spielen“, ist sich Giffey sicher. „Da sind aber so viele Details dabei: Wie wir bestimmte Dinge umsetzen, wie fit wir bleiben“, will Giffey den Auftakterfolg aber nicht zu hoch hängen.
Der Forward ist übrigens der einzige Spieler aus dem deutschen Kader der EM 2013, als Deutschland zum Auftakt den späteren Europameister Frankfurt geschlagen hatte, nur um nach vier Niederlagen danach nicht die Vorrunde zu überstehen.
Doch das aktuelle Team ist mit dem von damals nicht zu vergleichen – und spielt im eigenen Land, womit auch Giffey klarstellt: „Wir haben einen krassen Push vom Heim-Turnier – das ist unglaublich.“ Und so ist die deutsche Nationalmannschaft auf jeden Fall aus dem Schatten der Zweifel getreten, die vor wenigen Wochen noch geherrscht haben.