Lamars Leiden
Die vergangenen zweieinhalb Jahre waren für Lamar Odom die vielleicht schlimmsten seines Lebens. Seit seinem Abgang von den L.A. Lakers ist er in ein tiefes Loch gefallen, das letzten Sommer einen absoluten Tiefpunkt erreichte. Trotz aller Schicksalsschläge versucht er nun, endlich wieder auf die Beine zu kommen.
Es ist Mai 2011, und der „Sweep“ der Dallas Mavericks über die Los Angeles Lakers ist besiegelt. Im vierten Spiel der Zweitrundenserie führt Dallas neun Minuten vor Schluss mit fast 30 Punkten. Lamar Odoms Frustration darüber nimmt plötzlich Überhand. Er rammt seinen Ellenbogen in Dirk Nowitzkis Brust und wird daraufhin aus dem Spiel geworfen. Nicht nur die Saison ist für ihn beendet. Es wird seine letzte Partie im Lakers-Trikot sein. Für Lamar Odom ist es der Anfang vom Ende.
Lamar Odom ist kein durchschnittlicher NBA-Profi. Nach außen hin gibt er das Bild eines nachdenklichen, sensiblen, manchmal traurigen Menschen ab. Er ist anders als die meisten Stars, die bei der Außendarstellung sehr darauf achten, ihre wunden Punkte nicht zu zeigen. Als Odom am Anfang der darauffolgenden Saison erfährt, dass sich ein Deal abzeichnet, der ihn nach New Orleans schicken würde, ist er erschüttert. Im lokalen Radio versucht er eine Erklärung dafür zu finden. Er erzählt von einem Traum, in dem er ins Trainings-Camp geht und ausgelacht wird. Er macht sich Gedanken darüber, dass bei seiner Ehrung zum Sixth-Man-of-the-Year in der vergangenen Saison einige Coaches nicht aufgetaucht waren. Und er grübelt, ob die Reality-Show, in der er zusammen mit seiner Frau Khloe Kardashian auftrat, eine Rolle dabei spielen könnte. Im gesamten Gespräch mit Stephen A. Smith kann man seine Stimme zittern hören.
Wenig später kommt es zum wohl unglücklichsten Ausgang eines Trades in der NBA-Geschichte. Da die New Orleans Hornets zu dem Zeitpunkt der Liga gehören, kann David Stern im letzten Moment sein Veto einlegen. Die Handvoll Spieler, die im Trade involviert waren, müssen zu ihrer urprünglichen Franchise zurück, obwohl sie wissen, dass dort eigentlich nicht mehr mit ihnen geplant wird.
Die meisten Spieler sind zwar innerlich verletzt, nehmen die Situation aber professionell an. Pau Gasol, den die Lakers nach Houston schicken wollten, nimmt ohne Murren das Training in L.A. auf. Kevin Martin und Luis Scola, die zu den Hornets gegangen wären, bleiben in Houston und blenden das ganze erfolgreich aus. Bei Lamar Odom gestaltet es sich komplizierter. Wieder bei den Lakers zu spielen, kann er sich beim besten Willen nicht vorstellen. Obwohl er L.A. liebt und über den Trade zu den Hornets totunglücklich war, kommt er nicht darüber hinweg, dass man ihn hier für verzichtbar hält. Mitch Kupchak sieht einen Spieler, der mit der Situation nicht umgehen kann, und tradet seinen Power Forward zum Titelverteidiger, den Dallas Mavericks.
In Dallas angekommen, wird Odom mit Fragen überworfen. „Ich hatte das Gefühl, dass ich getradet werde, egal was passiert. Ich musste Kontrolle über die Situation übernehmen“, erklärt er in einem Interview mit ESPN. In seiner ersten Pressekonferenz gibt er sich zuversichtlich. „Ich musste was finden, wo ich mich wohlfühle. Und Dallas ist perfekt dafür.“ Die Wörter verraten aber nur die halbe Wahrheit. Denn Odoms Gesichtsausdruck sagt etwas anderes: Er trauert den Lakers noch immer hinterher.
Keine vier Monate später ist das Kapitel Dallas für Lamar Odom beendet. Beide Seiten einigen sich darauf, Odom für den Rest der Saison als „inaktiv“ zu listen. Die gesamte Franchise ist fassungslos. Der letztjährige „Sixth Man of the Year“ hat die schlechteste Saison seiner gesamten Karriere hinter sich. 6,6 Punkte hat Odom bei den Mavericks durchschnittlich aufgelegt, nur 35,2 Prozent seiner Feldwürfe getroffen. Es sind nur noch Bruchteile der fabelhaften Statistiken, die er noch eine Saison zuvor als Laker ablieferte. Fans auf der ganzen Welt kratzen sich am Kopf, versuchen den Absturz des Lamar Odom zu erklären.
Sportlich gesehen gibt es ein paar Argumente, die eine leicht abfallende Entwicklung erklären könnten: die Umstellung von der Triangle-Offense auf ein schnelleres Spielsystem, in dem die Big Men den Ball seltener in ihren Händen halten. Odoms schlechte körperliche Verfassung bei seiner Ankunft in Dallas im Vergleich zur Vorsaison, als er nach einer erfolgreichen WM topfit zu den Lakers stieß. Doch offensichtlich ist, dass ein solcher Absturz auch andere Gründe haben muss, die abseits des Basketballfeldes zu finden sind.
In der Offseason während des Lockouts sind einige Dinge geschehen, von denen sich Odom noch Monate später nicht befreit hat. Odom, der bereits mit zwölf Jahren seine Mutter an Krebs verlor und 2006 wegen des Todes seines sechs Monate alten Sohns fast seine Karriere beendete, muss im Sommer gleich zwei erneute Schicksalsschläge hinnehmen. Im Juli erhält er die Nachricht, dass sein Cousin erschossen worden ist. Nur ein Tag nach der Beerdigung ist Odom Zeuge eines Unfalls, bei dem ein 15-jähriger Junge verunglückt. „Der Tod scheint mich immer zu begleiten“, sagt er im August der L.A. Times. „Lange Zeit habe ich jetzt schon Leute beerdigen müssen. Als ich mein Kind beerdigen musste, habe ich wahrscheinlich erst anderthalb Jahre später mit dem Trauern begonnen.“
Für Odom steht daraufhin Basketball ganz hinten auf der Liste. „Im September 2011 habe ich mit Odom am Telefon gesprochen. Er erzählte mir, dass es ihm sehr schwerfällt, Energie für das Spielen zu finden“, erzählt ESPN-Reporter Dave McMenamin. „Er hoffte, dass sich der Lockout bis ins neue Jahr zieht, weil er sonst mental noch nicht bereit für das Trainingslager sei.“
Bei Odoms Verpflichtung vertrauen die Mavericks darauf, dass sich die schrecklichen Ereignisse nicht negativ auf ihren Neuzugang auswirken werden. Auch sehen sie darüber hinweg, dass ihr Neuzugang eine tiefe Verbundenheit zu Los Angeles verspürt. „Wir haben eine tolle Kultur hier, und wir dachten, wir könnten uns da durchkämpfen“, erklärt Mark Cuban nach der Trennung. Andere sehen die Verpflichtung von Anfang an mit skeptischen Augen. „Jeder, der Lamar Odom kennt, weiß, dass es zwei Sachen gibt, die er liebt. Er liebt es, in Los Angeles zu sein, und er liebt es, Violett und Gold zu tragen“, erklärt Stephen A. Smith von ESPN. „Es gibt bestimmte Leute, die einfach sehr sensibel sind und solch eine Verbundenheit zu einer bestimmten Situation verspüren, dass sie auseinanderbrechen, wenn sie die verlassen müssen. Ich weiß noch, wie ich Rick Carlisle zu der Zeit sagte: ‚Coach, es ist ein Fehler. Der Mann will hier nicht sein.’“
Im Juli 2012 traden ihn die Mavericks zu den Los Angeles Clippers, die als eine der wenigen Franchises mutig genug sind, ihn nach dem Dallas-Drama unter Vertrag zu nehmen. Sie hoffen, dass ihm seine Rückkehr in die vertraute Umgebung Flügel verleiht. „Wir wollten wissen, ob er ein Teil von uns sein will und warum“, erklärt Clippers-Präsident Andy Roeser nach der Verpflichtung. „Und wir waren über seine Gründe sehr zufrieden. Er will uns beim gewinnen helfen.“
Doch alle Hoffnungen bekommen schon vor der Saison ein Dämpfer. Noch in der Preseason zeigt sich der 32-jährige außer Form. Clippers-Coach Vinny del Negro sorgt sich um seine Konditionsdefizite, klagt noch Ende November über sein Übergewicht. Erst im Dezember spielt Odom regelmäßig über 20 Minuten, von seinen Leistungen bei den Lakers ist er aber noch immer weit entfernt. Ende Februar erzielt er beim Sieg gegen die Utah Jazz 18 Punkte und zeigt zum ersten Mal, wie wertvoll er mit seinen Allrounder-Fähigkeiten für die Clippers sein kann. Die Medien feiern den Auftritt als seine Auferstehung, auch seine Teamkameraden haben das Gefühl, dass er endlich wieder zu seinem Spiel gefunden hat. Doch es bleibt die einzige Partie der kompletten Saison, in der Odom über zehn Punkte erzielt. Vinny Del Negro, der anfangs noch betont, wie wichtig Odom für die Playoffs sein werde, schickt ihn immer seltener auf das Feld, je näher die Postseason rückt. In der ersten Runde gegen die Memphis Grizzlies spielt Odom nur noch eine minimale Rolle. Seine Saisonstatistiken sind wie im vergangenen Jahr zum vergessen: vier Punkte pro Spiel, eine Wurfquote unter 40 Prozent und eine Freiwurfquote von 47,6 Prozent.
In den folgenden Monaten ist es ruhig um Lamar Odom. Er ist Free Agent, wird beispielsweise bei den Lakers als möglicher Neuzugang gehandelt, doch insgesamt ist er in den Medien kein großes Thema.
Im August rückt sein Leben jedoch mehr und mehr in die Öffentlichkeit. Zuerst berichtet die Klatsch-Webseite TMZ, Odom sei dieses Jahr wieder von einem Kokain-Problem eingeholt worden, nachdem er schon letztes Jahr von seiner Frau Khloe Kardashian in eine Entzugsklinik geschickt worden sei. Ein Tag später heißt es, Odom sei verschwunden und seit drei Tagen von niemandem erreicht worden. Bald schaltet sich ESPN mit ein und berichtet, Odom sei in einem Hotel in Los Angeles, wo Freunde ihm wegen eines Drogenproblems Hilfe suchen würden. Nur wenige Tage später wird er verhaftet, nachdem er auf der Autobahn in Schlangenlinien fährt. Letztlich veröffentlicht TMZ noch ein Video, in dem Odom mit einem Kumpel einen Rap nuschelt und offensichtlich nicht ganz bei sich ist. TMZ behauptet, er habe davor Kokain eingenommen, Odom sagt, er sei lediglich betrunken gewesen. Klar ist jedenfalls, dass er am absoluten Tiefpunkt angelangt ist.
„Es ist echt verrückt”, meint Josh Powell, Odoms früherer Mitspieler bei den Lakers, gegenüber ESPN. „Man schaut sich die ganzen Sachen an, die er durchgemacht hat. Manchmal lastet zu viel auf den Schultern eines Menschen. Natürlich will man nicht, dass Leute so damit umgehen, aber manchmal gibt es für sie einfach keinen anderen Weg.“
„Ich glaube, wenn er draußen in der Öffentlichkeit ist oder mit seinen Freunden rumhängt, dann hat er eine gute Zeit“, meint Shannon Brown, ebenfalls ein langjähriger Teamkamerade von Odom. „Wenn Leute alleine sind, dann wird es aber manchmal zur Belastung, weil ihr Kopf sich nur mit den Sachen beschäftigt, die ihnen wehtun. Er ist einer dieser Leute. Er hat nicht viel darüber geredet, und wenn er es tat, war es sehr, sehr knapp.”
In den nächsten Monaten scheint sich Odoms Situation aber zu verbessern. Er geht wieder in die Trainingshalle, trifft sich im November mit Clippers-Coach Doc Rivers und scheint kurz davor zu sein, einen Vertrag bei den Clippers zu unterschreiben. Doch Rivers zögert: „Ich habe mich schon immer für ihn interessiert, er war in einer guten Verfassung, aber viel bedeutet das nicht.“ Im Februar entscheidet sich Odom schließlich, nach Europa zu gehen und dort einen Neuanfang zu wagen. Beim spanischen Club Laboral Kutxa unterschreibt er einen Zwei-Monats-Vertrag mit anschließender Option auf den Rest der Saison. Nach nur zwei Spielen ist er aber schon wieder in den USA. Aufgrund einer Rückenverletzung will er in New York einen Spezialisten aufsuchen.
Viele sehen es als äußerst unwahrscheinlich, dass Odom noch einmal zurückkehren wird. Und doch gibt er sich selber deutlich kämpferischer als zuletzt. „Die Reise ist nicht beendet“, erklärt er auf der Vereins-Webseite des Euroleague-Teilnehmers. „Ich werde mich um diese Verletzung kümmern und versuchen, zurück auf den Platz zu kommen. Mir ist es ein bisschen peinlich, aber gleichzeitig bin ich stolz, dass ich ein Team habe, das versteht, dass ich verletzt bin und mich immer noch unterstützt. Es bedeutet mir viel. Es hilft mir auf und neben dem Platz.“ Ein Comeback in Spanien könnte essentiell sein, um Lamar Odom endlich wieder in die Spur zu bringen.