Der Mythos Michael Jordan
Die Geburt von „Air Jordan“
Die Anfangsjahre im Dress der Chicago Bulls ähneln mehr einer Ein-Mann-Show als einer Erfolgsgeschichte für das Team. Als Jordan die NBA-Bühne betritt, reibt sich vor allem der neue Eigentümer der Bulls, Jerry Reinsdorf, die Hände. Der Geschäftsmann kaufte die Franchise im Sommer 1984 zum Schnäppchenpreis von 10 Millionen Dollar. Seit ihrer Gründung zählten die Bulls nur Anfang der 1970er Jahre zu den stärkeren Teams der Liga, Anfang der 1980er war Basketball in Chicago ein Synonym für Erfolglosigkeit. Gerade einmal 6.000 Besucher besuchten im Schnitt die Heimspiele der Bulls. Bis zu dem Tag, an dem Michael Jordan beginnt, seine Schuhe für die Rot-Weißen zu schnüren.
Das Korsett vom College-System unter Coach Smith, das Jordans Spiel eingeschränkt hat, ist im Profilager nicht mehr zu sehen. Bulls-Coach Kevin Loughery gibt Jordan sofort die Zügel in Hand und der Rookie zahlt das Vertrauen mit 28,2 Punkten, 6,5 Rebounds, 5,9 Assists und 2,4 Steals pro Spiel zurück – MJ gewinnt mühelos die Wahl zum „Rookie des Jahres“.
Ohnehin sind die ersten Profijahre für „Air Jordan“, wie er aufgrund seiner unnachahmlichen Flugeinlagen und dem Dynamit in den Waden, wenn nicht sogar im ganzen Körper, genannt wird, mehr Unterhaltung als Meilensteine auf dem Erfolgsweg. Im Front Office der Bulls regieren Genie und Wahnsinn von General Manager Jerry Krause. Drei Head Coaches (Loughery, Stan Albeck und Doug Collins) bleiben von der Athletik MJs geblendet und geben ihm auf dem Parkett Narrenfreiheit – sie schneiden sich damit ins eigene Fleisch, sprich: Sie werden entlassen. Der Rest des Teams steht im Schatten von Jordans Heiligenschein. Das Wort Dominanz würde Blasphemie gleichen. Jordan steht seit Ende der 1980er nicht nur auf einer Stufe mit Elvis oder den Beatles, sondern wird fast schon als höhere Instanz vergöttert.
Die Lobpreisung schlägt sich nicht zuletzt in der Werbeindustrie nieder, die im Produkt Jordan einen Goldesel findet. Allein der Sportschuhhersteller Nike scheffelt Einnahmen sondergleichen. 1964 unter dem Namen Blue Ribbon Sports von Phil Knight gegründet, nimmt das Unternehmen aus Beaverton, Oregon, im ersten Jahr nur läppische 3.240 US-Dollar ein. Allein im Jahr 2008 sind es gigantische 19,2 Milliarden US-Dollar. Dass vor allem Jordan als Zugpferd hergehalten hat, steht außer Frage. 1984 überzeugen Knight und Chef-Designer Tinker Hatflied den 21-jährigen NBA-Piloten, nicht mehr in Converse (wie auf dem College und wegen Larry Bird und Magic Johnson) oder Adidas (in seiner Freizeit) aufzulaufen, sondern stattdessen mit einer eigenen Schuhlinie auf Korbjagd zu gehen. Am 14. Oktober 1984 unterzeichnet Jordan einen 22-Seiten-Vertrag mit Nike. Aber der Turnschuhhersteller hat die Rechnung nicht mit MJs neuem Arbeitgeber, den Chicago Bulls, gemacht, deren Dress Code das neue Fußkleid ihres Rookies nicht gutheißt. Doch NBA-Boss David Stern regelt die Sache später und hebelt die Kleidervorschrift aus. Jordan darf fortan ohne die 5.000 US-Dollar Strafe pro Spiel auflaufen. Nike verdient im ersten Jahr mit dem MJ-Flaggschiff 130 Millionen Euro, 1998 bedeutet dieser Wert allein Jordans Anteil.
Außerhalb der NBA-Parkette gibt es in der Schuhindustrie seither nichts Vergleichbares – 23 Schuhmodelle der Air-Jordan-Serie plus unzählige Sonderanfertigungen in diversen Farben bleiben ein Dauerrenner für alte und junge Basketball-Anhänger.
Vorne wie hinten dominant
Wie gut war Michael Jordan? Es mag Kritiker geben, die ihn lediglich auf seine Angriffslust beschränken. Der Blick auf die Statistiken lässt zwar erkennen, dass MJ Jahr für Jahr an vorderster Stelle auf der Punkteliste stand. In der Saison 1986/87 gelingen ihm als zweitem Profi überhaupt mindestens 3.000 Punkte (nach Wilt Chamberlain, dem dieses Kunststück drei Jahre in Folge (1960-1963) gelang). Die 37,1 Zähler pro Partie bedeuten bis heute den höchsten Punkteschnitt eines anderen Spielers als Chamberlain.
Dass Jordan zu den großen Namen des Basketballs zählen würde, die sich durch herausragende Leistungen vom Rest der Liga abheben, beweist „His Airness“ eine Saison zuvor. In seinem zweiten Jahr in der Liga bricht er sich im dritten Saisonspiel bei den Golden State Warriors den Fuß und verpasst 64 Spiele. Obwohl ihm die Teamverantwortlichen davon abraten, verfrüht wieder den Wettbewerb zu suchen – Jordan soll die komplette Saison aussetzen und den Sommer 1986 zur Rehabilitation nutzen –, trainiert der Betroffene heimlich an seiner alten Uni und kehrt für die letzten 14 Spiele der regulären Saison zurück. Die Bulls lösen noch das Playoff-Ticket, dort ist aber in der ersten Runde gegen den späteren Meister Boston Celtics kein Sieg zu holen. Doch Jordan nutzt erneut die landesweite Aufmerksamkeit, um weiter an seiner Legende zu meißeln. Im ersten Spiel gegen Larry Bird und sein Team legt Jordan 49 Punkte auf. Im zweiten Spiel, das die Bulls nach zweifacher Verlängerung verlieren, geht die Gala weiter; am Ende stehen 63 Zähler hinter Jordans Namen – bis heute Playoff-Rekord. Bird lobt den Bulls-Korbjäger in den höchsten Tönen: „Das war Gott, als Michael Jordan verkleidet.“
Was Jordan im Angriff auch unternimmt, er findet einen Weg, um den Ball in den Korb zu bringen. Ob er nun aus dem Fastbreak heraus mit einem krachenden Dunking abschließt, mit seiner Grazilität und Finesse gegnerische Verteidigungsreihen austanzt, um dann in typischer Manier – mit viel Rotation des Balles – das orange Leder in den Korb zu legen oder einfach den klassischen Sprungwurf trifft– Michael Jordan hat das gesamte Repertoire in seinem Werkzeugkasten.
Trotz der unbändigen Entschlossenheit, vorn den Abschluss zu suchen, hängt Jordan sich auch in der Abwehr ins Zeug. Bis heute ist er der einzige NBA-Spieler, der jemals MVP der regulären Saison, bester Verteidiger und wertvollster Spieles des NBA All-Star Games wurde. All diese Auszeichnungen heimst der Überspieler, der Jordan zu dieser Zeit ist, in der Saison 1987/88 ein.