Nikola Jokić: Auf den Spuren von Wilt Chamberlain
In unserer neuen Rubrik „Spieler des Monats“ nehmen wir regelmäßig einen NBA-Spieler genauer unter die Lupe. Unsere Redaktion stellt vier Kandidaten zur Wahl – und ihr könnt auf Twitter mitentscheiden. Der Akteur mit den meisten Stimmen wird von einem Mitglied unserer NBA-Redaktion analysiert. In der zweiten Ausgabe setzte sich Nikola Jokić gegen Nikola Vučević, Kawhi Leonard und Blake Griffin durch.
„Der ‚Joker‘ sollte der Top-Anwärter auf den MVP-Award sein”. Mit diesem Satz löste TNT-Experte Charles Barkley kurz vor Weihnachten eine Debatte aus. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass der Hall of Famer in der Vergangenheit schon die eine oder andere fragwürdige Bemerkung von sich gegeben hat und vom TV-Sender dafür bezahlt wird, steile Thesen rauszuhauen. Doch dieses Mal kann man durchaus plausible Argumente dafür finden, auch wenn seine Kollegen am Tisch Barkleys Meinung nicht teilten. Denn Jokić ist der beste Spieler des drittbesten Teams der bisherigen Saison. Und er ist zudem gemeinsam mit Philadelphias Joel Embiid einer der beiden besten Center der laufenden Spielzeit. Darüber hinaus ist der Serbe ein Spieler, wie man ihn in der Liga sonst nicht findet.
Bester Passing-Big-Man seit langer Zeit
7,4 – so viele Assists verteilt Jokić pro Begegnung. Damit liegt er in dieser Kategorie ligaweit auf Platz zehn. Die nächsten Center folgen mit meilenweitem Abstand (Marc Gasol und Anthony Davis mit je 4,5 ApG). Von allen Centern in der NBA-Geschichte übertraf nur der vierfache MVP und 13-fache All-Star Wilt Chamberlain in der Saison 1967/68 (8,6 ApG) und im Jahr davor (7,8 ApG) diese Werte. Auf 36 Minuten gerechnet konnte aber auch dieser nicht mit Jokićs 8,6 Vorlagen mithalten.
Im Team der Denver Nuggets ist Jokić ebenfalls der beste Vorbereiter. Der Serbe passt mit seinen Passfähigkeiten ideal ins Team. Schließlich verfügt die Truppe von Head Coach Mike Malone über keinen klassischen Point Guard: Weder Jamal Murray noch Gary Harris ist ein Floor General. Und so bauen die Nuggets ihr auf viel Ballbewegung basierendes Angriffsspiel über ihren Center auf.
In die meisten Halbfeldangriffe ist Jokić als Ballverteiler involviert. Seine Mitspieler finden ihn entweder an der Birne der Dreierlinie, im High- oder Low post, von wo aus er mit hoher Präzision seine zum Korb cuttenden oder an der Dreierlinie freistehenden Teamkollegen bedient. Der Center hat laut NBA/Stats die fünftmeisten Elbow-Touches (6,1) und die neuntmeisten Post-ups (7,3) aller NBA Spieler. Daraus resultieren 0,9 bzw. 0,8 Assists, womit Jokić ebenfalls jeweils unter den besten Fünf gehört – vom Elbow sogar auf Platz eins. Er verfügt über eine Spielintelligenz und Übersicht, die sich vor keinem Guard der NBA verstecken muss.
Anfang Dezember legte Jokić gegen das Top-Team aus Toronto 15 Assists auf. Dem „Joker“ gelang beim Auswärtssieg der Nuggets sogar ein Triple-double (23 Pkt, 15 Ast, 11 Reb). Das folgende Video zeigt alle Vorlagen des Big Man aus der Partie.
Zumeist assistiert der Big Man aus dem High-post heraus. Herausragend ist dabei seine Präzision mit dem Rücken zum Korb. Selbst lange Pässe in die ballferne Ecke kommen punktgenau an. Im Video ist zudem zu erkennen, dass vielen Assists ein Handoff und ein Block von Jokić vorausgeht. Der Serbe befindet sich mit 3,9 Screen-Assists auch in dieser Kategorie unter den ersten zehen. Darüber hinaus brilliert der 23-Jährige auch als Vorbereiter im Fastbreak. Er kann den Ball im Schnellangriff dank seiner guten Ballhandling-Qualitäten selber nach vorne bringen, aber auch mit langen Pässen den freien Mitspieler finden.
Jokić macht mit seinen Skills alle Mitspieler um ihn herum besser. Und in diesem Fall ist das nicht nur eine billige Floskel, sondern statistisch belegbar. So ist auffällig, dass alle Akteure hochprozentiger treffen, wenn sie das Parkett mit dem Starting Center teilen.
Mehr Verantwortung – mehr Effizienz
In seiner Rolle als Ballverteiler und Vorbereiter ist Jokićs Bedeutung noch einmal gestiegen. Währenddessen sind die Zahlen der Punkte, Feld- und Freiwürfe pro 36 Minuten nur leicht nach oben gegangen. Die Nuggets verfügen über viele Offensivwaffen, sodass der Center nicht jeden Abend sein Team als Scorer tragen muss.
Dass der vielseitige Big Man allerdings dazu in der Lage ist, hat er vor allem in den letzten Wochen bewiesen. Auch ohne ihre drei Starter Harris, Paul Millsap und Will Barton konnte Denver fünf seiner acht Spiele für sich entscheiden – und das gegen Teams wie Toronto, OKC, Memphis und Dallas. Maßgeblich daran beteiligt war ihr Star-Center, der in diesen Partien seinen Wert von zuvor 16,4 auf 22,1 Punkte pro Spiel steigerte. Auch bei den Wurfquoten machte er trotz der gestiegenen Verantwortung starke Sprünge nach oben (von 46,7% auf 54,4% FG; von 29,2% auf 40,9% 3FG). Bei den fünf Siegen erzielte er immer mehr als 20 Punkte, mit dem Höhepunkt gegen Dallas (32 Pkt).
Auch im Heimspiel gegen die Raptors führte er sein Team als Top-Scorer zum Sieg, wobei er Durchsetzungsvermögen in der Zone und Killer-Instinkt bewies. Im dritten Viertel initiierte er mit zwölf Punkten und vier Rebounds fast im Alleingang die Aufholjagd, die letztlich mit dem Erfolg gekrönt wurde.
Jokić schließt zum Großteil in der Zone nach Post-ups oder als abrollender Big Man nach einem Pick-and-Roll ab. Er spielt aber auch das Pick-and-Pop, wenngleich seine Quote aus der Distanz in dieser Saison nicht gut ist (31,0% 3FG bei 3,3 Versuchen). Wenn der Center von Downtown abdrückt, dann zumeist von hinter dem Top of the key, wo die Entfernung der Dreierlinie zum Korb am größten ist. Insgesamt macht Jokić den Mangel an Athletik durch Skills wett. Dank seines für einen Center starken Ballhandlings wagt er auch den einen oder anderen Drive, nachdem er einen Gegenspieler mit einer Wurffinte hat aussteigen lassen. Am liebsten agiert er jedoch als Abroller im Pick-and-Roll oder mit dem Rücken zum Korb.
Größte Entwicklung in der Verteidigung
Mangelnde Athletik war auch immer ein Thema in Bezug auf Jokićs Defense. Im Pick-and-Roll war der Center aufgrund fehlender Schnelligkeit ein Schwachpunkt. Doch das Stichwort lautet „war“. Denn in dieser Saison zeigt der Serbe deutliche Verbesserungen in der Verteidigung. Neben der Rückkehr von Paul Millsap ist dies der Hauptgrund dafür, dass Denver bei der Defensiv-Effizienz einen Sprung von Platz 23 in 2017/18 (Defensiv-Rating von 109,9 laut NBA Stats) auf Rang 8 (Defensiv-Rating von 105,7) zum jetzigen Zeitpunkt machte.
Ein wichtiger Faktor war die Umstellung der Pick-and-Roll-Verteidigung seitens des Nuggets-Trainerstabs im Vergleich zur Vorsaison. In der Vergangenheit sank Jokić bei Pick-and-Rolls ab und wartete unter dem Block auf den Drive des gegnerischen Ballhandlers. Das Ziel war, mehr ineffiziente Mitteldistanzwürfe aus dem Dribbling zu forcieren. Das Ergebnis sah jedoch häufig anders aus: Der attackierende Ballhandler schlug Jokić, der auch nicht als Ringbeschützer bekannt ist, auf dem Weg zum Korb beim Drive oder beim Layup in der Zone.
Seit dieser Saison wenden die Nuggets mit Jokić in der Pick-and-Roll-Verteidigung zumeist eine sogenannte Hedge-Defense an. Der Center ist dabei deutlich aktiver und steht höher, um den Ballhandler früh unter Druck zu setzen. Wie erfolgreich diese Art der Pick-and-Roll-Verteidigung ist, hängt davon ab, ob Jokić den Pass zu seinem freien abrollenden Gegenspieler verhindern oder zumindest so erschweren kann, dass die Help-Defense genug Zeit zum Rotieren hat, um diesen am einfachen Dunk oder Korbleger zu hindern. Funktioniert die Verteidigung der Nuggets-Defense gut, ist es Jokić möglich, anschließend zu seinem Gegenspieler zurückzukehren und einen Switch, der zu einem Mismatch führen könnte, zu verhindern. In manchen Fällen gelingt es dem Center sogar, Pässe abzufangen. Trotz etwas geringerer Spielzeit im Vergleich zu 2017/18 legt der 23-Jährige diese Saison eine Karrierebestmarke von 1,5 Steals pro Partie auf.
Jokić ist nicht viel athletischer und schneller als in der Vorsaison. Auch ist er nicht plötzlich ein guter Ringbeschützer geworden. Stattdessen ist es eine Kombination aus der neuen Team-Verteidigung, seinem Stellungsspiel und seinem Einsatz am defensiven Ende, die zusammen zu einer deutlichen Verbesserung der Nuggets-Defense sowie Jokić im Speziellen führt. Denver hat ein Konzept gefunden, um eine überdurchschnittliche Verteidigung zu etablieren, ohne dass ihr Starspieler ein guter Individualverteidiger ist – ähnlich wie die Mavericks früher mit Dirk Nowitzki.
Kein MVP, aber Denvers MVP
Gehört Jokić also zurecht zum Kreis der MVP-Anwärter? Auf jeden Fall – zumindest, wenn Denver bis Ende der regulären Saison ein Top-Team bleibt. Ist er <em>der</em> Favorit, wie es Barkley behauptet? Sicherlich nicht. Um am Ende die meisten Stimmen zu bekommen, legt der „Joker“ wohl deutlich zu wenige Punkte pro Spiel auf – auch wenn er zuletzt bewiesen hat, dass er mehr scoren kann, wenn es von ihm verlangt wird.
Allerdings gibt es (noch) zu viele Spiele, in denen 23-Jährige streckenweise abtaucht und manchmal sogar Totalausfälle drin hat. Bereits siebenmal erzielte Jokić diese Saison weniger als 10 Punkte bei mehr als 20 Minuten Spielzeit. Das Negativbeispiel schlechthin war sein Auftritt Anfang November in Memphis, wo er in 26 Minuten lediglich einen Wurf aus dem Feld nahm. Zudem fehlt ihm die Ausstrahlung eines Superstars.
Denvers Erfolg in Abwesenheit von drei ihrer wichtigsten Spieler belegt dafür, dass Jokić – mit gehöriger Unterstützung von Murray – das Team tragen kann. Und zwar nicht nur als bester Passer, sondern auch als Scorer und mittlerweile auch als solider Teamverteidiger. Damit ist der Serbe nicht nur auf dem Weg, sich seine erste All-Star-Nominierung zu verdienen, sondern auch die erste Playoff-Teilnahme mit den Nuggets. Viele sind schon jetzt gespannt zu sehen, wie sich der „Joker“ auf der größten aller Bühnen präsentieren wird.