„Das Wichtigste ist, die Tiefe an Talent zu entwickeln”

DBB-Bundestrainerin Lisa Thomaidis spricht im Interview vor dem Start der Europameisterschaft über (veränderte) Ziele, die Bedeutung von Leonie Fiebich und Luisa Geiselsöder sowie die Coming-Out-Party von Frieda Bühner.

basketball.de: Als wir uns vor einem Jahr in Würzburg unterhalten haben, sagten Sie, dass es das Ziel sei, in den nächsten zwei Jahren zu den zehn besten Teams der Welt zu gehören. Befindet ihr euch auf einem guten Weg, dieses Ziel zu erreichen?

Lisa Thomaidis: Ja, wir befinden sie uns definitiv auf einem guten Weg. Zuletzt hatten wir einige unglückliche Verletzungen, die es uns natürlich erschweren, dieses Ziel zu erreichen – aber das Ziel bleibt bestehen, bei der Weltmeisterschaft im kommenden Jahr im eigenen Land ein Top-Ten-Team zu stellen. Natürlich bleibt abzuwarten, was wir bei der Europameisterschaft erreichen werden, aber der Aufstieg, den das Team in den vergangenen Jahren gemeistert hat, ist unglaublich: sich für die Olympischen Spiele zu qualifizieren und allein im vergangenen Jahr vier Teams, die in den Top-Ten stehen, zu schlagen [in Belgien, Brasilien, Japan und Serbien, Anm. d. Red]. Das zeigt, zu was dieses Team zu leisten imstande ist, wenn all unsere Spielerinnen verfügbar sind.

Was muss bei der nun anstehenden Europameisterschaft passieren, dass ihr den nächsten Schritt Richtung Top-Ten macht?

Unser Ziel ist eine Medaille gewesen – ehe wir von den angesprochenen Verletzungen getroffen worden sind. Das macht dieses Ziel natürlich viel schwerer. Wir wollen uns für das Viertelfinale qualifizieren und uns zumindest in eine Ausgangslage bringen, um um eine Medaille zu kämpfen.

Von Gordon Herbert ist bekannt, dass er als Bundestrainer der Männer-Nationalmannschaft es den Spielern in Meetings überlassen hatte, sich konkrete Ziele zu setzen. Wie handhaben Sie es?

Genau das haben wir auch im November vergangenen Jahres getan. Nach den Olympischen Spielen ist es wie ein großer Neustart. Wir haben damals eine teambildende Übung gemacht, um über die Erwartungen und Ziele des Teams zu sprechen. Eine der ersten Dinge, worauf sich die Spielerinnen verständigt haben, war, eine Medaille bei der Europameisterschaft zu gewinnen. Die Spielerinnen hatten also die völlige Kontrolle über unsere Zielsetzung.

„Luisa Geiselsöder wird eine der besten Low-Post-Spielerinnen der EM sein“

In Leonie Fiebeich und Luisa Geiselsöder werden zwei Spielerinnen, die in der WNBA aktiv ist, erst sehr kurz vor Beginn der Europameisterschaft zum Team stoßen. Sie kennen diese Situation bereits von den Olympischen Spielen. Wie gehen Sie mit dieser Situation hinsichtlich Lineups, Trainings und unterschiedlicher Rollenverteilung um?

Kommunikation ist hierbei sehr wichtig. Wie Sie sagen, müssen ohne die beiden andere Spielerinnen in andere Rollen schlüpfen und mehr Minuten gehen. Als sich Marie Gülich verletzte, hat das die Situation noch einmal verschärft. Es hat sich also viel verändert. Aber letztlich wird das unser Team nur besser machen – Spielerinnen nehmen andere Rollen ein, spielen mehr Minuten, es wird von ihnen erwartet, zu produzieren: Wir hoffen, dass das unser Team stärker macht. Die späte Ankunft von Leonie und Luisa macht das natürlich sehr schwer, wir werden im Grunde nur drei Tage der gemeinsamen Vorbereitung haben. Aber natürlich haben wir die beiden mit kurzer Vorbereitung lieber an Board als gar nicht.

In der angesprochenen Marie Gülich sowie Satou und Nyara Sabally fehlen Ihnen wichtige Optionen, allesamt im Frontcourt. Inwieweit werden Sie Ihr System und Ihr Playbook im Vergleich zu den Olympischen Spielen ändern?

Das werden wir tun müssen. Wir waren mit den drei ein so ein großes Team und hatten den wahrscheinlich besten Frontcourt. Der Ball wird etwas öfter in Leonies und Luisas Händen sein – ich weiß, dass sie bereit dafür sind. Wir haben aktuell einen gut Mix aus Spielerinnen, die bei den Olympischen Spielen dabei waren, und einigen jungen Spielerinnen. Das ist spannend, denn ich denke, dass sich das auszahlen wird – in diesem Jahr oder in ein paar Jahren. Das ist das Wichtigste für uns: dass wir weiterhin die Tiefe an Talent entwickeln, das in der Nationalmannschaft mündet; dass unser Team immer noch von Talent strotzt, selbst wenn die WNBA-Spielerinnen fehlen.

Betrachtet man die Play-Type Stats, fällt beispielsweise auf, wie häufig Ihr Team bei den Olympischen Spielen aus dem Eins-gegen-Eins abgeschlossen hat [darauf entfielen 16,2% der Offensivaktionen, Anm. d. Red.] und wie wenig bei den vergangenen vier Qualifikationsspielen für die Europameisterschaft [Anteil von 6,8%]. In den Sabally-Schwestern fehlen Ihnen die meiner Meinung nach besten Isolation-Optionen [zusammen 31 der 46 Punkte aus dem Eins-gegen-Eins].

Ja, damit haben Sie recht. Zu Beginn des Sommers habe ich dem Team sogar gesagt, dass wir versuchen werden, etwas vom Spielstil von vor zwei Jahren aufzugreifen. Bei der EM 2023 hatten wir mit einem Team Erfolg, das auf Ballbewegung und Bewegung abseits des Balls gesetzt hat. Ich denke, wir werden in diesem Sommer weniger Isolation sehen; wir werden stattdessen versuchen, etwas schneller zu spielen, aus der Semi-Transition und nach Offensiv-Rebounds abzuschließen. Eine große Herausforderung wird aber auch die Verteidigung sein, wo wir vor den Gegenspielerinnen bleiben und keine hochprozentige Würfe erlauben wollen. In der vergangenen Woche haben wir darauf den Fokus gelegt.

Sie haben Luisa Geiselsöder und Leonie Fiebich angesprochen, die mehr Verantwortung schultern müssen. Fiebich sagt von sich selbst ja, dass es nicht ihrer Persönlichkeit entspricht, im Mittelpunkt zu stehen. Müssen Sie als Headcoach und Ihr Staff Sie vielleicht dazu drängen, mehr selbst zu forcieren, was nun notwendig ist? Die Anlagen dazu hat sie ja.

Ja, dieses Gespräch haben wir schon geführt. Es ist nicht einfach, da ihre Rolle bei den New York Liberty eine andere ist als bei uns, wo sie mehr Verantwortung übernehmen und kreieren, wo sie mit ihrer Athletik Druck auf den Korb ausüben muss. Wir haben nicht so viele Spielerinnen, die das Skillset haben, bis zum Ring zu kommen. Das benötigen wir von ihr, hoffentlich können wir das aus ihr herauskitzeln. Lui wird eine der besten Low-Post-Spielerinnen der EM sein. Sie hat sich innerhalb des vergangenen Jahres so stark verbessert… Sie ist wirklich bereit, den nächsten Schritt zu machen und für uns zu brillieren. Sie wird eine starke Europameisterschaft spielen.

„Frieda Bühner ist wie eine stille Killerin“

Eine Spielerin auf den großen Positionen, die auch eine größere Rolle spielen wird, ist Frieda Bühner. Sie hatte bei den Olympischen Spielen so etwas wie ihr Coming-Out. Was zeichnet ihr Spiel aus?

Nach dem Coming-Out bei den Olympischen Spielen hat sie eine starke Saison in Spanien absolviert. Darauf aufbauend wird sie mehr Verantwortung in der Nationalmannschaft haben, vor allem angesichts der fehlenden Spielerinnen. Was mich an ihr beeindruckt: Wenn man sieht, wie sie spielt und das Spiel versteht, denkt man, dass sie viel älter sein müsste. Sie ist für eine Post-Spielerin zwar undersized, ist aber so effektiv. Sie hat ihren Dreier verbessert, kann den Ball durchaus auf den Boden setzen und hat einen Motor: Sie geht raus und kann dir viele Minuten geben. Sie ist wie eine stille Killerin. (lacht) Am Ende des Spiels schaust du auf den Boxscore und wunderst dich, wieviel sie aufgelegt hat. Bei den Olympischen Spielen hat sie sich noch etwas im Schatten unserer Star-Spielerinnen bewegt, aber mittlerweile kennen gegnerische Teams sie und werden auch auf sie vorbereitet sein – das wird für soe nun die Herausforderung sein, um den nächsten Schritt zu machen.

Mit den drei Frontcourt-Spielerinnen, die fehlen, wären Marie Bertholdt, Lina Sontag oder Annika Soltau gute Alternativen gewesen – Spielerinnen, die in den vergangenen Monaten Teil der Nationalmannschaft waren. Sind diese drei in diesem Sommer keine Option gewesen?

Leider war keine der drei verfügbar, wir hätten alle drei gerne im Kader gehabt. Annika studiert Medizin und konnte sich nicht von ihrem Praktikum freinehmen. Marie hat auch berufliche Verpflichtungen. Und Lina hatte eine Verletzung. Hoffentlich sind sie im nächsten Jahr wieder verfügbar, wenn die Weltmeisterschaft ansteht.

„Wir können eine einzigartige Lineup aufbieten, mit der kaum ein Team der Welt mitgehen kann“

Sie haben die Größe des Teams angesprochen – das ist auch etwas, was mich an dieser Mannschaft fasziniert. In den vergangenen Jahren hat, zumindest im Männer-Basketball, ja der Begriff „Smallball“ den Diskurs geprägt, demnach sterbe unter anderem das Post-up aus. Bei ihrem Team verhält es sich anders. Ist das eine spezielle Eigenschaft Ihres Teams oder ist dies ein Trend im Frauen-Basketball?

Meiner Meinung nach ist das eine einmalige Eigenschaft dieses Teams. Auch wenn wir extrem viel Größe haben, sind einige dieser großen Spielerinnen nicht traditionelle Post-Spielerinnen. Wir haben Spielerinnen von 1,90 bis 1,95 Metern, die alle nach außen gehen, werfen und den Ball auf den Boden setzen können. Man betrachte Satou, die zum Korb kommen und Fouls ziehen kann, ohne sie fehlt uns eine Playmakerin und Slasherin. Luisa kann Pick-and-Pop spielen und den Dreier treffen. Nyara kann innen wie außen spielen und ist gut darin, Kontakt zu suchen. Wenn alle Spielerinnen verfügbar sind, können wir eine einzigartige Lineup aufbieten, mit der kaum ein Team der Welt mitgehen kann.

Anm. d. Red.: Das Interview wurde zwischen den beiden Testspielen gegen Belgien geführt.