Seiten aus dem Playbook: RASTA Vechta unter Pedro Calles
RASTA Vechta schrieb in der vergangenen Saison eine Cinderella-Story, als Handschrift eine druckvolle Verteidigung. Dabei zeichnet sich Pedro Calles auch in der Offensive aus: als versierter Coach in Einwurfspielzügen.
Es steckt etwas von Brad Stevens in Pedro Calles. Als Stevens 2013 als Head Coach bei den Boston Celtics übernimmt, ohne vorherige Erfahrung als Head Coach in der NBA, ist er mit 37 Jahren der jüngste Coach der gesamten Liga; sogar manche NBA-Spieler sind zu diesem Zeitpunkt älter.
Das dürfte Pedro Calles bekannt vorgekommen sein: Der Spanier steigt zur Saison 2018/19 mit 35 Jahren bei RASTA Vechta ein – und ist damit jünger als ein Veteranentrio Jenas. Immerhin hat Calles zuvor schon als Assistant Coach bei den Niedersachsen gearbeitet.
Nun sollte man, bei Coaches, ein junges Alter nicht mit Unerfahrenheit gleichsetzen. Es gibt derweil eine weitere Parallele zwischen Stevens und Calles: Zeit seiner Karriere in der NBA hat sich der Celtics-Coach als kreativer Kopf bei Einwurfspielzügen (nach einer Auszeit) ausgezeichnet. Und auch Pedro Calles hat in dieser Saison einige sehenswerte Plays auf sein Taktikbrett gemalt – dabei scheint sich Calles von Stevens inspirieren zu lassen.
Folgendes Video zeigt die Boston Celtics bei einem Spielzug nach Einwurf von der Seitenauslinie („SLOB“ für „SideLine Out of Bounds“ im Fachjargon) – gemeinhin wird der Spielzug als „Winner“-Play bezeichnet.
Und genau jenen Spielzug ließ Calles in dieser Saison beispielsweise in den Begegnungen gegen s.Oliver Würzburg und die JobStairs GIESSEN 46ers laufen.
Durch den weiten – sicherlich auch herausfordenden – Skip-Pass nach einem Cross-Screen an der Baseline verlagert die Offensivmannschaft schnell das Geschehen auf die andere Spielfeldseite. Durch die forcierte Bewegung der Verteidigung mag der anschließende Block an der Spielfeldmitte manche Defense überraschen.
„Winner“-Play? Aus einem Einwurfspielzug gewann Vechta in dieser Spielzeit auch eine Partie: die bei Brose Bamberg. Wobei Trevis Simspons spielentscheidender Dunk trotz Foul so von Calles wohl gar nicht aufgezeichnet worden war. Hört man bei der vorherigen Auszeit zu, hört man Calles sagen, dass „Vasturia backdoor gehen“ solle. Der Einwerfer Steve Vasturia hätte nach seinem Einwurf also die (erste) Option sein sollen.
Simpson nutzt dabei einen Elevator-Screen – also die Blöcke zweier Mitspieler, die sich danach zueinander bewegen und gewissermaßen eine Aufzugtür schließen („close the door“ sagte Calles in der Auszeit). Simpson kommt zwar nicht an den Ball, schaltet dann aber schnell mit seinem Cut nahe des Mittelkreises (Cuts mit Anlauf, von der eigenen Hälfte, gibt es bei Stevens übrigens als bewusst gewähltes Element).
Drei Angriffe davor, ebenfalls nach einer Auszeit, hat Calles einen ganz ähnlichen Spielzug aufgezeichnet – in dem erneut Simpson per Elevator-Screen freigespielt werden sollte. Diesmal läuft der Spielzug besser, und Simpson verkürzt per Dreier zum 80:81 aus Vechtas Sicht.
Ein Backdoor-Cut Vasturias wäre hier ebenfalls eine Option gewesen, wenn der Ball zu Max DiLeo in die ballstarke Ecke gegangen wäre.
Der Einwerfer ist oftmals der gefährlichste Spieler – da er sich nach seinem Einwurf in eine ballabseitige Rolle begibt und erstmal andere Aktionen gelaufen werden. Das wird auch in folgender Aktion gegen Bayreuth ersichtlich, als Josh Young an der Baseline einwirft („BLOB“ für „BaseLine Out of Bounds“): Die Bayreuther Big Men schauen auf den Ball, Vechtas Big Men stellen erneut einen Elevator-Screen – aus dem Young frei zum Dreier kommt.
Zu einem relativ offenen Wurf kommt Young auch in einer Sequenz beim Auswärtsspiel gegen die HAKRO Merlins Crailsheim – als nur noch eine Sekunde auf der Wurfuhr ist. Young nutzt dabei einen Flare-Screen seines Centers Michael Kessens, sofort nachdem Ishmail Wainright um Young gecurlt war.
Noch offener ist Steve Vasturia nach einem BLOB-Play gegen Gießen – was sicherlich auch an den Abstimmungsproblemen der 46ers-Defense liegt. Interessant bei diesem Play ist, dass beide Flügelspieler – Vasturia und Jarelle Reischel – nach ballfernen Blöcken zur gleichen Zeit in die Zone schneiden.
Vasturia – erneut als Einwerfer – wird auch in folgender Aktion gegen s.Oliver Würzburg an der Birne freigespielt. Hier hat Vechta mehr Zeit, dementsprechend viele Aktionen läuft Calles‘ Team. Am Ende erhält Vasturia einen Staggered-Pin-Down – zwei Mitspieler (DiLeo und Kamari Murphy) stellen hintereinander einen Block mit Blick zur Grundlinie.
Interessant hierbei: Eigentlich macht sich Vasturia bereit, den ersten Block dieser Staggered-Pin-Down-Aktion für DiLeo zu stellen. Der cuttet dann aber nicht nach oben, sondern stellt eben einen Block für Vasturia. Durch diese Aktion muss die Würzburger Verteidigung switchen.
Das gleiche Play läuft Vechta gegen Hamburg – aber mit einem anderen Ausstieg. Wieder sind die drei Spieler Vasturia (als Einwerfer), DiLeo und Murphy involviert. Diesmal cuttet Vasturia aber in die Zone, ohne einen Block zu stellen oder zu nutzen. DiLeo erhält daraufhin einen Block von Murphy für den Dreier von der Birne.
In den meisten Fällen geht Vechta nach Einwurfspielzügen auf einen Dreier. Das liegt in der Offensiv-DNA des Teams: 28,9 versuchte Dreier pro Spiel sind der vierthöchste Wert der Liga gewesen, in der vergangenen Saison nahm Vechta sogar die meisten Distanzwürfe (29,9 3FGA).
Mit einer Quote von 38,5 Prozent und 7,4 Dreierversuchen pro Partie (die zweitmeisten ligaweit hinter Andrew Warren) sticht hierbei Trevis Simspon heraus – der in eine ähnliche Rolle wie Austin Hollins aus dem letztjährige RASTA-Kader geschlüpft ist. Auch in dieser Saison lässt Vechta einen Play mit drei ballfernen Blöcken laufen, aus dem häufig Simpson abdrückt – letztes Jahr tat dies meist noch Hollins:
Als Bonus zu Calles‘ Kreativität: Vechta ist in dieser Saison direkt nach dem Sprungball durch einen einzigen Block zu einem offenen Wurf gekommen: beim Auswärtsspiel gegen den SYNTAINICS MBC. Max DiLeo, der am nächsten am MBC-Korb steht, stellt dabei einen Back-Screen in den Rücken von Joey Dorsey, der mit Michael Kessens zum Tip-Off gegangen ist. Ein weiter Lob-Pass später kann Kessens ungehindert einlegen.
Auch ratiopharm ulm hat diesen frühen Block am gegnerischen Tip-Off-Springer in dieser Saison schon genutzt – ebenso Gießen, im Duell mit Vechta …
Das zweite Jahr sei für einen Aufsteiger oft das schwerste, lautet eine sportliche Binsenweit. RASTA Vechta hatte nach zwei Saisondritteln aber bewiesen, dass sie ihre Cinderella-Story aus dem vergangenen Jahr fortgeschrieben haben. Vor dem Stopp der BBL-Saison rangierte Calles‘ Team auf dem sechsten Platz und befand sich erneut auf Playoff-Kurs. Dabei hatten die Niedersachsen mit der Doppelbelastung der FIBA Basketball Champions League klarkommen müssen.
Calles hat in seinen ersten eineinhalb Jahren als Head Coach Vechtas 65,5 Prozent seiner BBL-Spiele gewonnen – nur der FC Bayern München, ALBA BERLIN und die EWE Baskets Oldenburg weisen in diesem Zeitraum eine bessere Bilanz auf.
Die Entwicklung von gestandenen Spielern wie T.J. Bray, Austin Hollins und Steve Vasturia, den nahtlose Übergang von Akteuren wie Seth Hinrichs oder Ishmail Wainright von der ProA in die BBL, die Rolle eines Nachwuchsspielers wie Philipp Herkenhoff: Unter Calles verbessern sich Spieler individuell – was sicherlich auch an der prozessbezogenen (statt ergebnisorientierten) Philosophie des Coaches liegt. Gepaart mit einem modernen Spielansatz sowie taktischer Finesse wird Calles in naher Zukunft einer der begehrtesten Coaches sein – europaweit.
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