Die glorreichen Siebten
Mit dem Meistertitel als Hauptrundensiebter schreibt ratiopharm ulm BBL-Geschichte – und begeistert auch Basketballromantiker.
„Gute Geschichten im Sport, im Leben fangen immer damit an, dass jemand an sich selbst glaubt.“ – Thomas Klepeisz, österreichischer Philosoph, im Nebenberuf Deutscher Meister
„Unrealistischer geht es kaum. Das kauft dir keiner ab. Nein, das können wir nicht machen.“ Hätte man die Saison 2022/23 von ratiopharm ulm als Drehbuch geschrieben und das Ganze einer Film-Produktionsfirma als Pitch vorgestellt, hätte man voraussichtlich eine solche Antwort erhalten.
Ein stolpriger Saisonstart mit mehr Niederlagen als Siegen? Die wichtigen Impulse erst durch zwei Neuzugänge? Als Hauptrundensiebter in die Playoffs, mit einem Auswärtssieg zum Start ins Playoff-Viertelfinal und -Halbfinale und damit für die Finals qualifiziert? Die Geschichte kennen wir doch schon von 2015/16 …
Am Ende dann doch der Titel – inmitten des tragischen Tods des Teambetreuers, im ersten Jahr nach dem Rücktritt der Club-Legende Per Günther. Die erste Meisterschaft der Vereinsgeschichte, der erste Titel eines Hauptrundensiebten der 56-jährigen BBL-Historie, der – eine weitere Premiere – den Zweiten, Dritten und Ersten der der regulären Saison ausschaltet, bei welchen es sich auch um den amtierenden Meister, amtierenden Pokalsieger und frisch gekürten Champions-League-Sieger handelt. Hat es in der Ligahistorie je einen größeren Upset gegeben?! Von der Ausgangslage vor Playoff-Start nicht.
Der Meistertitel von Ulm weckt nicht nur in Ulm und um Ulm, sondern auch um Ulm herum Begeisterung, weil darin Sportromantik steckt: Der Außenseiter klickt kollektiv zur richtigen Zeit und überflügelt am richtigen Ort die Favoriten. In einer Liga, in der man Power Rankings auch anhand der Etats aufstellen kann, ein erfrischender Ausreißer.
Wie die Ulmer dieses Leistungshoch zum Saisonhöhepunkt erreicht haben, das werden sie vielleicht selbst noch nicht so recht wissen. Was ein Faktor war: individuelle Qualität ist ein qualitativ hochwertiges Kollektiv transformiert worden. Hier eine der besten „Paint Touch“-Maschinen, dort einer der besten Abroller der Liga. Hier einer der besten Schützen, dort eine Fastbreak-Dampflok. Hier hervorragende Rotationen in der Verteidigung, dort Dunk-Highlights als Stimmungsmacher. Dazu noch Clutchness und Spielwitz, und herauskommt ein Team, bei dem immer jemand zu übernehmen wusste. Am Ende hat es ratiopharm ulm konstant geschafft, den Gegnern sein Spiel aufzudrängen bzw. deren Stärken als die eigene zu übernehmen.
„Unser Problem war, dass wir nicht konstant genug waren“, spricht Anton Gavel im aktuellen BIG-Podcast eine vorherige Schwäche des Teams an, welche beseitigt wurde. „Das erste Spiel in Berlin hat uns das Vertrauen gegeben, dass wir etwas Größeres schaffen können.“ Und dort haben vielleicht diese fünf Minuten zwischen Ende des dritten und Mitte des vierten Viertels auf die ganzen drei Playoff-Runden gewirkt: Mit einem 22:0-Lauf stutzte Ulm den Albatrossen die Flügel, auch gegen den FC Bayern München (16:2-Lauf im vierten Viertel der ersten Partie) und die Telekom Baskets Bonn (18:0-Auftakt ins vierte Viertel des letzten Spiels) waren solche Drangphase in kurzer Zeit ausschlaggebend.
Es war also immer dieser Glaube, von dem der anfangs zitierte österreichische Philosophs, pardon, von dem der Ulmer Kapitän Thomas Klepeisz spricht, der bei Magenta Sport ausführte: „Nach dem ersten Sieg in Berlin haben wir gemerkt, dass einiges möglich ist, wenn wir so fokussiert und intensiv spielen. Den Basketball, den wir dann in den Playoffs gezeigt haben, wurde von Mal zu Mal besser.“
Das trifft auch auf die Saison und den Playoff-Lauf von Yago dos Santos zu, der die Finals-MVP-Trophäe einheimste. Was der Point Guard auf dem Parkett war, demonstrierte Anton Gavel an der Seitenlinie: auf niedrigem Niveau schon Erfahrung gesammelt (dos Santos immer in Brasilien, Gavel drei Jahre in der ProB und NBBL), doch auf BBL-Level noch Rookie. Da verabschiedet sich Gavel mit einer Meisterschaft von seiner Spielerkarriere, nur um seine BBL-Trainerkarriere mit einer Meisterschaft zu beginnen. „Die Mannschaft hat eine sehr große Spielfreude, aber gleichzeitig auch eine sehr große Spieldisziplin. Das trägt ganz klar die Handschrift von Anton Gavel“, wusste Thorsten Leibenath bei Magenta Sport die Arbeit seines Head Coachs einzuordnen, welcher das Lob an den Sportdirektor weitergab:
„Diese zwei Veränderungen im Kader sind zwei Top-Treffer gewesen und waren ein riesiger Teil für die Meisterschaft.“ Beim anfangs erwähnten 2016er Team waren Chris Babb und Pierria Henry die Katalysatoren für den Umschwung, ein Jahr davor hatte sich auch Ian Vougioukas für den Award der besten Nachverpflichtung der Saison beworben. Ulm kann Nachverpflichtung.
So drehbuchreif die Geschichte von Anton Gavel sein mag, so sehr muss man auch dessen Assistant Coach Tyron McCoy Respekt zollen. Neben Göttingen waren die Ulmer das einzige Team, das mit nur einem offiziellen Assistant Coach in die Saison gestartet war. „Er kann durch seine Erfahrung den Spielern unglaublich viele Tricks beibringen und ist unglaublich versiert darin, Spielzüge richtig zu verteidigen und die passenden Anweisungen an die Mannschaft zu geben. Er weiß auch, wie er mit den Spielern sprechen muss. Er ist ein unglaublicher Glücksgriff“, wertschätzte Leibenath McCoy bei Magenta Sport.
Gavel als Head Coach, Tyron McCoy als dessen Assistent, Thorsten Leibenath als Sportdirektor, dabei auch noch Chris Ensminger im Nachwuchsbereich: Ulm hat seine gesamte Organisation mit so viel geballter Basketballerfahrung, ja, gar Hall-of-Fame-Qualität aufgestellt, um auch als Blaupause herhalten zu können. Mit dem Orange Campus und damit der Möglichkeit, auch ausländischen Prospects eine vielversprechende Infrastruktur zu bieten, hat der Club zudem das Potential, als einer der wenigen deutschen Clubs eine wirkliche Identität zu implementieren. Wenn das dann auch noch durch eine Deutsche Meisterschaft gekrönt wird, ist das eine Geschichte … die schon fast verfilmt werden müsste.