Calles: „Es geht darum, seine Spieler besser zu machen“
„Es geht nicht nur um Sieg und Niederlage“, hat Pedro Calles von Aíto Garcia Reneses gelernt. Der Head Coach von RASTA Vechta erklärt die Bedeutung Aítos für den spanischen Basketball und sich selbst und skizziert seine Defensivphilosophie.
„Éxito“ ist spanisch und heißt „Erfolg“. Gerade in diesen Tagen schadet es nicht, in das Wörterbuch zu schauen oder die Übersetzungsapp zu öffnen, um sein Spanisch aufzufrischen. Am Donnerstagabend treffen beim Spiel zwischen ALBA BERLIN und RASTA Vechta zwei spanische Trainer aufeinander, vor allem aber auch: zwei aktuelle Erfolgstrainer der Basketball-Bundesliga, Berlins Aíto Garcia Reneses und Vechtas Pedro Calles. Doch was ist eigentlich Erfolg?
„Es geht nicht nur um Sieg und Niederlage. Es geht darum, seinen Spielern etwas beizubringen und sie am Ende der Saison besser gemacht zu haben“, nennt Pedro Calles ein Prinzip Aítos Philosophie, das er als erstes von der spanischen Trainerlegende mitgenommen habe. „Der Spieler, den du im August bekommst, sollte nicht der gleiche sein, wenn er im Juni das Team verlässt.“
Es geht nicht nur um Sieg und Niederlage… Gerade in diesen Tagen trägt jener Satz aber auch einen bitteren Nachgeschmack, zumindest in der Hauptstadt. Die Berliner sahen sich im entscheidenden EuroCup-Endspiel von Valencia über drei Viertel lang dominiert, womit sie unter Aíto die vierten Finals verloren haben (wobei man auch Argumente finden kann, den bloßen Finaleinzug als größere Errungenschaft einzuordnen als manchen europäischen Titel eines BBL-Teams).
Und dennoch hat der Lehrmeister den Basketball hierzulande erfolgreich geprägt: wie durch ein freies wie forsches und damit ansehnliches Offensivspiel, oder durch das Fördern und Fordern von Nachwuchsspielern. Als Club im Profi- wie vor allem Breitensport haben die Albatrosse eine Sportidee entwickelt, womit man ALBA BERLIN als Positivbeispiel einer Vereinskultur heranziehen kann. Das verlangt Prinzipien.
„Du kannst deine Prinzipien nicht jede Woche ändern, nur um ein einzelnes Spiel zu gewinnen“
Die verfolgt auch Pedro Calles in Vechta. „Du musst deinen Prinzipien, deinen Verpflichtungen und den Zielen, die du dir am Anfang der Saison gesteckt hast, treu bleiben. Du kannst dies nicht jede Woche ändern, nur um ein einzelnes Spiel zu gewinnen“, zeigt sich Calles weitsichtig. So habe der 35-Jährige vor der Saison auch nicht das „Ziel“ Klassenerhalt ausgegeben, dies sei eher ein „Traum“ gewesen. Ziele waren vielmehr die Weiterentwicklung der Spieler und der Organisation.
Mit einer Bilanz von 20-7, dem dritten Tabellenplatz und einem Lauf von 14 Siegen aus den vergangenen 16 Partien scheint es derweil auch wenig Grund zu geben, in Vechta wöchentlich etwas zu verändern.
In den ersten Saisonwochen hätte es dazu noch eher die Gelegenheit gegeben: Mit drei Niederlagen war der Aufsteiger in die Saison gestartet. Es folgten zwar drei Siege, gegen den MBC mussten die Niedersachsen aber in die Verlängerung, gegen Crailsheim musste T.J. Bray per Buzzerbeater den Gamewinner besorgen. Und doch sah sich Calles schon damals von Aíto bestärkt.
Beim gemeinsamen Abendessen vor dem Hinrundenduell beider Teams Mitte November ging es gar nicht so sehr um die beide Mannschaften, wie Calles schildert, ehe Aíto doch kurz auf das Sportliche einging: „Nur eine Sache zu deinem Team: Mach weiter so, mir gefällt das.“ Auch wenn es früh in der Saison war und die Ergebnisse noch nicht da waren, wie Calles zurückblickt, „hat Aíto das, was wir hier in Vechta machen, befürwortet und uns damit Rückhalt gegeben.“
Im MagentaSport-Interview ging Aíto weiter und bezeichnete Vechtas Stil als „Zukunft des Basketballs.“ Für Calles natürlich eine ungeheure Wertschätzung: „Obendrein zu den Erfolgen, die wir in dieser Saison feiern, ist das die größte Auszeichnung, die ich erhalten kann.“
Es mag nicht nur um Sieg oder Niederlage gehen, aber mit dem damaligen 81:69-Sieg sorgte Vechta für die bis dato größte Überraschung der Saison – und muss daraus so viel Selbstvertrauen gezogen haben, um den Zusatz „Überraschung“ vor „Mannschaft“ gestrichen und sich stattdessen als „Spitzenmannschaft“ etabliert zu haben.
„Ich bringe meinen Spieler etwas bei, indem ich ihnen Videos von Berlin zeige“
„Das war ein großartiger Abend. Meine Spieler wussten, dass das für mich eine besondere Begegnung gewesen war“, erinnert sich Calles, der nach dem Schlusspfiff von seinen Spielern noch auf dem Parkett in die Mitte genommen und gefeiert wurde. Das Narrativ des Schülers, der seinen Lehrmeister bezwingt, trifft hier durchaus zu.
„Für mich, wie auch für viele andere Coaches in Spanien, ist Aíto der Lehrer. Auch wenn ich nicht das Glück hatte, wirklich unter ihm zu lernen. Aber er ist für mich die erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, mein Basketballverständnis zu verbessern“, erläutert Calles die Bedeutung Aítos. „Ich habe auch kein Problem damit, zuzugeben, dass ich meinen Spielern etwas beibringe, indem ich ihnen Videos von Berlin zeige“, führt Calles mit einem Lächeln aus.
Bei diesem Einfluss spanischer Coaches auf die BBL (welcher im Berliner Fall noch viel weiter geht) stellt man sich unweigerlich die Frage, inwieweit der deutsche Basketball derzeit vom spanischen geprägt wird. Für Calles ist diese Frage aber nur schwer zu beantworten. „Das erste, worauf wir uns einigen müssen, ist: Gibt es eine spanische Art des Basketballs? Wenn Sie mich fragen: Ich weiß es ehrlich gesagt nicht. Ich kann nicht sagen, wie ,spanischer Basketball’ gelaufen wird.“ Immerhin weilt Calles seit 2012 in Deutschland und dürfte auch basketballerisch so sozialisiert worden sein.
Dennoch: Ein Ansatzpunkt wäre die aggressive Verteidigung, die man sowohl bei Aítos Team in Berlin als auch bei Calles’ Mannschaft in Vechta erkennt. Bei den Albatrossen vor allem beim gegnerischen Pick-and-Roll, das häufig nicht nur per Hedge-and-Recover verteidigt wird, sondern bei dem auch immer wieder ein zweiter Flügelspieler von der Weakside zum Ball rotiert und entweder Druck auf den Ballführer ausübt oder dessen Pass erschwert. Folgende Sequenzen sind aus der vergangenen Saison:
Wenn die Defense mehr attackiert als die Offense
Johannes Voigtmann, der bei Baskonia Vitoria Gasteiz seine dritte Saison in der spanischen Liga absolviert, erkennt diese Verteidigungsart wieder – erklärte aber im Interview in der vergangenen Offseason, „dass die Verteidigung [in der ACB] gewechselt wird – weil die Gegner sich darauf eingestellt haben.“
In Deutschland scheint man dieser Evolution des Basketballs in Spanien noch hinterher (gewesen) zu sein: „Die Berliner haben am Anfang mit ihrer Verteidigung alle Offensiven durcheinandergebracht – weil diese einfach nicht wussten, was sie dagegen machen sollen, weil sie es nicht kannten.“
Vechta verteidigt derweil noch früher bei einem gegnerischen Angriff aggressiv und lässt in einem „Run-and-Jump“-Prinzip einen zweiten Verteidiger blitzartig zum gegnerischen Aufbauspieler sprinten, um den Spielaufbau zu stören, wie folgendes Video zeigt:
„Wenn wir uns darauf verständigen, dass das der spanische Stil sei – kann ich damit leben“, schmunzelt Calles – und offenbart, dass auch diese Verteidigungsart auf Aíto zurückzuführen ist: „Die Clips aus dem Video sind ähnlich Dinge, die ich mal in einer Coach Clinic von Aíto gesehen habe.“
Für Calles gehe es darum, die gegnerische Offensive in eine schwierige Situation zu bringen. „Wenn man sich das Video ansieht: Es stimmt, dass eine Mannschaft den Basketball hat – aber ich sehe keine Mannschaft, die ihre Offensive durchläuft. Ich sehe die verteidigende Mannschaft mehr Attackieren als der Spieler, der den Ball hat.“
„Aíto bringt den Spielern nicht nur Basketball bei“
Es geht nicht nur um Sieg und Niederlage, können wir bei Berlin und Vechta festhalten, vielmehr um agieren statt reagieren. Mit ihren Aktionen auf dem Trainerstuhl hatten beide Clubs zum damaligen Zeitpunkt durchaus für Aufsehen gesorgt: Aítos Renommee ist unbestritten, doch der 72-Jährige war im Sommer 2017 nach einjähriger Pause nach Berlin gekommen und würde zum ersten Mal außerhalb Spaniens trainieren. Und Pedro Calles trat im Sommer 2018 seine erste Station als Head Coach eines Profiteams überhaupt an.
Die Erfolge, über Sieg und Niederlage hinaus, geben beiden Coaches recht. Ob es nun eine spanische Art des Basketballs gibt oder nicht, und was diesen Stil auszeichnen könnte, sei dahingestellt. Vielleicht ist es auch ein Stil, der über Basketball hinausgeht, wenn Calles zu einem weiteren Einfluss Aítos sagt:
„Eine Sache, die Aíto auszeichnet: Er bringt seinen Spielern nicht nur Basketball bei. Er zeigt ihnen, wie auch uns anderen Coaches, dass es weit mehr gibt. Vor allem junge Spieler sollten nicht nur an Basketball denken. Wenn du das tust, hast du eine gute Balance – und kannst wiederum das Beste aus deiner Basketballkarriere herausholen.“
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