Toronto Raptors: von Charlie zu Carter
Als einziges kanadisches Team der NBA nehmen die Toronto Raptors eine Ausnahmestellung in der US-Profiliga ein, Marc Lehmkühler würdigt die Geschichte der Franchise. Im ersten Teil: von den Huskies über die 1995er Expansion zur Ära um Vince Carter.
von Marc Lehmkühler
Es ist ein Freitagabend im November, als Toronto vor rund 7.000 Zuschauern in den Maple Leaf Gardens seine NBA-Premiere feiert. Den Sprungball sichert sich 1,96-Meter-Mann Ed Sadowski, Torontos Center und Spielertrainer. Den ersten Korb des Spiels erzielt jedoch Knicks-Guard Ossie Schectman, der mit den Gästen aus New York am Ende auch einen 68:66-Sieg vom Lake Ontario entführt – trotz sechs Punkten des gebürtigen Hanauers und Toronto-Guards Charlie Hoefer.
Wer bei dieser Spielbeschreibung etwas verwundert ist, hat allen Grund dazu. Denn natürlich verläuft so nicht das NBA-Debüt der Toronto Raptors. Dieses findet zwar auch an einem Freitagabend im November statt, allerdings vor 33.306 Zuschauern im überdimensionierten SkyDome. Den Sprungball gewinnt der immerhin 2,06 Meter große Raptors-Center Ed Pinckney, der natürlich auch kein Spielertrainer ist. Und den ersten Korb des Spiels erzielt der vierfache All-Star Alvin Robertson. Am Ende des Spiels zeigt die Anzeigetafel einen 94:79-Heimsieg der Raptors gegen die New Jersey Nets an. Der einzige deutsche Spieler in der Liga zu dieser Zeit heißt natürlich Detlef Schrempf. Charlie Hoefer ist bereits verstorben, ebenso Ed Sadowski. Statt des 1,75 Meter großen Hoefers wirbelt an jenem Abend ein 1,78-Meter-Rookie namens Damon Stoudemire, genannt „Mighty Mouse“, im Backcourt der Kanadier.
Dennoch ist die eingangs beschriebene Episode keinesfalls erfunden. Nur hieß die NBA damals genau genommen noch BBA – Basketball Association of America, die offizielle Vorgängerliga der NBA. Und an jenem Freitagabend, dem 1. November 1946, fand das erste Spiel der BBA und damit auch das offiziell erste Spiel der NBA-Geschichte zwischen den Toronto Huskies und den New York Knickerbockers statt. Die Ticketpreise schwankten zwischen 75 Cent und 2,50 Dollar. Schectman erzielte den ersten Korb der Liga-Geschichte. Und beim Sprungball des ersten NBA-Spiels stand tatsächlich die Nummer 13 der Huskies auf dem Parkett: ein 1921 in Hanau geborener Mann namens Charles Henry Hoefer.
Hoefer, der mit seiner Familie 1926 nach Amerika migriert und in Queens aufgewachsen war, dort seinen Geburtsnamen Adolph abgelegt und im zweiten Weltkrieg in der US-Küstenwache gedient hatte, absolvierte insgesamt 65 Spiele in der BBA. Dabei stand er 23 Mal für die Toronto Huskies und 42 Mal für die Boston Celtics auf dem Parkett. Als er am 26. November 1947, knapp ein Jahr nach seinem Debüt, letztmalig in der Liga auflief, hatten sich die Toronto Huskies bereits aufgelöst. Nach nur einer Saison.
Dinos statt Hunde
Es wird fast ein halbes Jahrhundert dauern, bis die beste Basketballliga der Welt wieder eine Mannschaft aus Toronto in ihren Reihen begrüßt. Die Weichen hierfür werden im April 1993 gestellt, als eine Investorengruppe um den Unternehmer John Bitove bei der NBA eine offizielle Bewerbung einreicht, in Toronto eine NBA-Franchise zu etablieren. Letztendlich setzt sich die Gruppe gegen konkurrierende Bewerbungen durch und erhält im November 1993 den Zuschlag, zur Saison 1995/96 und damit 48 Jahre nach der Huskies-Pleite wieder eine Mannschaft in Toronto an den Start zu bringen. Die fällige Franchise-Gebühr setzt neue Maßstäbe: Mit 125 Millionen Dollar beträgt sie angeblich den vierfachen Wert vorheriger Expansionen.
Nachdem die Bewerbungsphase erfolgreich absolviert ist, können sich die Investoren der nächsten, nicht zu unterschätzenden Herausforderung widmen: der Wahl des Teamnamens. Diskutiert wird wohl zunächst auch eine Rückkehr zum ursprünglichen Namen: Toronto Huskies. Letztendlich entscheiden sich die Verantwortlichen jedoch dagegen – angeblich aufgrund der Problematik, dass ein mögliches Huskies-Logo zu sehr jenem der 1989 gegründeten Minnesota Timberwolves ähneln würde.
Stattdessen veranstaltet die Organisation einen Namens-Wettbewerb, in dessen Verlauf mehr als 2.000 Vorschläge eingereicht werden. Auf die Spitzenplätze schaffen es neben den üblichen einheimischen oder gefährlichen Tieren (Beavers, Bobcats, Grizzlies, Hogs, Scorpions, Tarantulas, Terriers) und Fabelwesen (Dragons) auch zwei Vorschläge, die wohl nicht zuletzt der Popularität des 1993 veröffentlichten Kinohits „Jurassic Park“ geschuldet sind: T-Rex und Raptors. Am Ende fällt die Wahl bekanntlich auf die Kurzform der Dinosauriergattung Velociraptor. Eine Entscheidung, die spätestens mit dem Rückgang des „Jurassic Park“-Hypes immer wieder für Diskussion sorgen und einige Enthusiasten sogar dazu bewegen wird, die Rückkehr der Huskies zu propagieren. Doch zumindest in Toronto ist das Zeitalter der Dinosaurier (bislang) noch nicht zu Ende gegangen.
Aller Anfang ist schwer
Obwohl die Trikots mit dem übergroßen Dino-Motiv später Kultstatus genießen, bleibt in den ersten Jahren der sportliche Erfolg zunächst aus. Zwar können die Raptors das eine oder andere Erfolgserlebnis feiern, etwa als sie in ihrer Premierensaison Michael Jordan und den Chicago Bulls eine ihrer lediglich zehn Saisonniederlagen beifügen. Mit 21, 30 bzw. 16 Siegen belegen sie jedoch in den ersten drei Saisons jeweils den letzten Platz in der damals noch acht Teams umfassenden Central Division. Hatten die Raptors in ihrer ersten Spielzeit hinter den Hornets und Bulls noch die drittmeisten Fans in die heimische Arena gelockt, belegen sie 1997/98 mit durchschnittlich 16.468 Zuschauern nur noch den 18. Rang – trotz einer regulären Kapazität von 22.900 und einer möglichen Aufstockung auf über 36.000 Zuschauer.
Die sportlichen Wachstumsschmerzen sind jedoch nicht weiter verwunderlich. Immerhin umfasst Torontos Ausbeute im Expansion Draft im Wesentlichen ausgemusterte Routiniers wie Robertson, Pinckney, Willie Anderson und John Salley oder überschaubar begabte Akteure. Oliver Miller, der 1995/96 die zweitmeisten Raptors-Minuten absolviert, wird später vor allem als vielleicht schwerster Spieler der NBA-Geschichte bekannt werden. Der erste Pick im Expansion Draft, der Bulls-Guard und dreimalige NBA-Champion B.J. Armstrong, weigert sich gar, seinen Job in Toronto anzutreten und wird umgehend zu den Golden State Warriors weitergegeben.
Einziger Lichtblick ist Damon Stoudemire, der als siebter Pick des NBA-Drafts 1995 direkt zum Top-Scorer der Raptors sowie zum Rookie des Jahres avanciert. Ihm folgen Marcus Camby als zweiter Pick der legendären 1996er-Talentwahl (mit Spielern wie Allen Iverson, Ray Allen, Kobe Bryant und Steve Nash) und schließlich, an neunter Stelle des NBA-Draft 1997, ein 18-jähriger Highschool-Überflieger namens Tracy McGrady. Trotz dieses talentierten Trios rutschen die Raptors in ihrer dritten Saison jedoch nur noch tiefer in den Tabellenkeller, sodass Mitte der Saison General Manager Isiah Thomas durch Glen Grunwald ersetzt wird. Kurze Zeit später fordert Stoudemire einen Trade und wird nach Portland verschifft.
Geburt eines Stars
Die sportliche Misere hat jedoch auch ihr Gutes, hilft sie den Raptors doch, den vierten Pick im NBA-Draft 1998 zu ergattern. Nachdem zunächst die Namen von Michael Olowokandi, Mike Bibby und Raef LaFrentz aufgerufen werden, wählen sie Forward Antawn Jamison von der Universität von North Carolina. Diesen geben sie allerdings sogleich im Tausch für dessen College-Teamkollegen Vince Carter – den fünften Pick – sowie eine Geldsumme an die Golden State Warriors ab. Noch vor Ort tauschen die beiden Studienfreunde ihre Baseball-Kappen mit den Logos der neuen Arbeitgeber.
Es ist der Startschuss für eine neue Ära, denn bereits in seiner ersten Saison übertrifft Carter mit 18,3 Punkten, 5,7 Rebounds und 3,0 Assists alle Erwartungen, räumt die „Rookie of the Year“-Trophäe ab und elektrisiert zugleich Basketball-Fans in Toronto und auf der ganzen Welt mit seiner schier übermenschlichen Athletik. Der große Durchbruch gelingt Carter in seiner zweiten Saison: Mit 25,7 Punkten, 5,8 Rebounds und 3,9 Assists stößt er in die NBA-Elite vor und wird ins All-NBA-Third-Team berufen. Zudem erhält er beim All-Star-Fan-Voting mit rund 1,9 Millionen Stimmen den größten Zuspruch aller NBA-Spieler.
Und eben dort, beim jährlichen Schaulaufen der NBA-Stars, setzt sich Carter im zarten Alter von 23 Jahren ein Denkmal für die Ewigkeit, als er am 12. Februar 2000, dem Tag vor dem großen Schauspiel, gemeinsam mit McGrady am NBA Slam Dunk Contest teilnimmt. 360-Gard-Windmill. Baseline-Windmill. Between-the-legs. Ellenbogen. Freiwurflinie. Die wohl beste Performance in der Geschichte des Dunk-Wettbewerbs. Let’s go home. It is over!
Während der Vince-Carter-Hype-Zug volle Fahrt aufnimmt, stellt sich in der Saison 1999/2000 endlich auch der sportliche Erfolg ein. So stehen den Raptors-Jungstars Carter und McGrady mit Antonio Davis, Charles Oakley, Kevin Willis, Doug Christie, Dell Curry und Muggsy Bogues gleich ein halbes Dutzend fähige und erfahrende Rollenspieler zur Seite – genug Qualität für 45 Siege, dem sechsten Platz im Osten und die erste Playoff-Teilnahme der Franchise-Geschichte. Nach zwei knappen Niederlagen im Madison Square Garden (88:92 und 83:84) sowie einer 80:87-Heimpleite im dritten Spiel muss man sich zwar dem Vorjahresfinalisten New York Knicks glatt mit 0-3 geschlagen geben. Die Raptors und Carter zählen jedoch spätestens jetzt zu den heißesten Akteuren der Liga.
Hoher Flug und harter Fall
Während Carter den anschließenden Sommer nutzt, um olympisches Gold zu gewinnen und dabei einen 2,18 Meter großen Franzosen zu überspringen, hat Tracy McGrady andere Pläne. Er schließt sich – gemeinsam mit Grant Hill – den Orlando Magic an, um in Zentralflorida aus dem Schatten von Vince Carter zu treten. Eine Entscheidung, die nicht nur vorübergehend für eisige Stimmung zwischen den beiden Cousins sorgt, sondern auf Jahre hinweg Futter für gedankliche Paralleluniversen bietet. „Rückblickend wünschte ich natürlich, ich wäre in Toronto geblieben“, wird McGrady selbst später zitiert. „Es besteht kein Zweifel daran, dass wir um Meisterschaften hätten spielen können.“
Ohne McGrady und mit einigen neuen Gesichtern (unter anderem stoßen Rookie Morris Peterson, die Guards Chris Childs und Alvin Williams sowie Forward Jerome „Junkyard Dog“ Williams zum Team) krebsen die Raptors in der Saison 2000/01 zunächst auch lange Zeit im Mittelfeld der Liga herum, ehe sie sich dank elf Erfolgen in der letzten 14 Spielen und insgesamt 47 Siegen immerhin noch den fünften Platz im Osten sichern. So kommt es in der ersten Runde zum Wiedersehen mit den New York Knicks. Auch dieses Mal geraten die Raptors zunächst ins Hintertreffen. Dank 32 und 27 Punkten von Carter und guten Leistungen von All-Star Antonio Davis sowie dem Guard-Duo Williams/Childs gelingt es Toronto jedoch, den 1-2-Rückstand in der „Best-of-Five“-Serie zu drehen und erstmals eine Playoff-Serie zu gewinnen.
Hier kommt es nun zum sehnsüchtig erwarteten Aufeinandertreffen von zwei der talentiertesten und populärsten jungen Spieler der Liga: Vince Carter und Allen Iverson. Überraschend gelingt es Toronto, einen Sieg beim ersten Duell aus der Stadt der brüderlichen Liebe zu entführen, doch Philadelphia gleicht die Serie dank 54 Punkten von Iverson umgehend aus. Im dritten Spiel, dem ersten in Toronto, schlägt nun Carters große Stunde: Mit 50 Punkten, neun Dreiern (bei 13 Versuchen), sechs Rebounds, sieben Assists und vier Blocks bringt er die Raptors mit 2-1 in Front. Die nächsten beiden Spiele gehen wieder an die Sixers, doch in der sechsten Begegnung, mit dem Rücken zur Wand, gelingt es Carter (39 Punkte) und den Raptors, ein entscheidendes siebtes Spiel zu erzwingen.
Der Tag dieses siebten Spiels, der 20. Mai 2001, soll auf lange Zeit in Erinnerung bleiben. Nicht nur, weil Dell Curry in der letzten Minute per Dreier auf 87:88 verkürzt, die Sixers dann zwei Wurfchancen verpassen und Toronto zwei Sekunden vor Schluss – bei Einwurf von der Seitenlinie – die Möglichkeit hat, das Spiel zu entscheiden. Nicht nur, weil Vince Carter den möglichen Gamewinner, einen langen Fadeaway-Zweipunktewurf von der halblinken Seite, auf den Ring setzt.
Der Tag bleibt auch deshalb in Erinnerung, weil Carter am Morgen jenes wichtigen Tages zunächst noch in Chapel Hill, North Carolina seinen Studienabschluss feiert, bevor er ins Flugzeug nach Philadelphia steigt und dort rund fünf Stunden vor Spielbeginn eintrifft. Bereits vor dem Spiel muss er sich, sichtlich genervt, den kritischen Fragen der Journalisten stellen. Auch von Mitspielern soll es Kritik gegeben haben.
Es ist eine Geschichte, die Carter noch lange verfolgen wird. So schreibt etwa Bill Simmons 2009 in seinem „Book of Basketball“: „Es ist die perfekte Vince-Carter-Geschichte – er nahm sich selbst wichtiger als die Mannschaft. Und verlor.“ Carter selbst sieht die Situation betont gelassen. In der 2017 erschienen Dokumentation „The Carter Effect“ beteuert er: „Ich bereue keine der Entscheidungen, die ich an diesem Tag getroffen habe. Ich bereue nur, dass ich diesen Wurf nicht getroffen habe.“ Auch Mitspieler Dell Curry, der damals den Ball zu Carter einwirft, beschwichtigt in der Doku: „Es ist ein Wurf, den er hundertmal getroffen hat. Dieses eine Mal ist der eben nicht gefallen. Es hatte aber nichts damit zu tun, was zuvor passiert war. Er hat einfach verworfen, das passiert.“
Der Carter-Effekt
Die besagte Dokumentation, die unter anderem von LeBron James und dem in Toronto verwurzelten Rap-Star Drake produziert wurde, erzählt neben den sportlichen Ereignissen aber insbesondere vom übergreifenden Einfluss jener Raptors-Ära und der Person Vince Carter. Sie lässt kanadische Spieler wie Tristan Thompson, Cory Joseph, Nik Stauskas oder Kelly Olynyk zu Wort kommen, die zu Zeiten des Raptors-Hypes aufwuchsen und später Teil des kanadischen Basketball-Booms in der NBA wurden. Sie erzählt auch, wie jene Raptors dabei halfen, die Stadt Toronto über die Landesgrenzen hinaus in den Köpfen vieler Menschen zu etablieren. In den Köpfen gegnerischer Spieler, die die Kultur und das Nachtleben der Stadt entdeckten. Aber auch in den Köpfen junger Menschen wie Kevin Durant, der im amerikanischen Maryland als Raptors- und Carter-Fan aufwuchs.
Während das zeitgleich gegründete kanadische Team aus Vancouver im Sommer 2001 – nach sechs erfolglosen Jahren mit nur 101 Siegen und 359 Niederlagen – von British Columbia nach Memphis umzieht, sind die Raptors zu dieser Zeit eine etablierte Größe in der NBA. Mehr noch: Sie sind ein globales Phänomen. Und auch hierzulande ist das lilafarbene Trikot mit der Nummer 15 zu Beginn der 2000er-Jahre aus den Turnhallen und von den Freiplätzen der Bundesrepublik kaum wegzudenken.
Als Carter im August 2001 seinen Vertrag um sechs Jahr verlängert, besteht deshalb wenig Zweifel daran, dass der Dunk-Contest 2000, der olympische „Todesdunk“ in Sydney und das legendäre Playoff-Duell gegen Allen Iverson für Vince Carter und die Toronto Raptors nur der Anfang einer großen Erfolgsgeschichte sind. Doch wie so oft im Leben, sollte alles anders kommen als gedacht.