Mr. Crossover

Bislang galt Jamal Crawford  als unterhaltsamer Scorer, aber nicht als Gewinner. Mit 33 Jahren hat er nun endlich eine Mannschaft gefunden, die ihn genau so braucht, wie er ist – und mit ihm als Korsettstange ganz nach oben will.

„Es ist ein Fluch und ein Segen“, sagte Jamal Crawford einmal der Seattle Times. Und meinte dabei die Fähigkeit, sich jederzeit seinen eigenen Wurf kreieren zu können. Ein Segen, weil er nicht auf Mitspieler angewiesen ist, um punkten zu können. Ein Fluch aufgrund der damit zusammenhängenden Kritik, er spiele zu egoistisch. „Das ist das schlimmste, was einer je zu mir gesagt hat“, erklärt Crawford. „Am Anfang meiner Karriere führte das dazu, dass ich im nächsten Spiel nicht mehr geworfen habe.“

Jamal Crawford ist ein Scorer. Wenn er den Ball in den Händen hält, will er am liebsten abdrücken. Weil er das am besten kann. Es gibt nicht viele, die es besser können als er. Doch genau aufgrund dieser Spielweise genießt er nicht den besten Ruf. Er teilt das Leid fast aller Topspieler auf seiner Position. Ob Monta Ellis, Kevin Martin oder Joe Johnson ‑ alle gelten als super Scorer, aber nicht als Gewinner. Denn obwohl sie Jahr für Jahr in der Punktestatistik der NBA sehr weit oben rangieren, sind ihre Teams in der Regel wenig erfolgreich.

Die ernstzunehmenden Playoff-Mannschaften haben das Spiel stattdessen auf ihre Point Guards zugeschnitten. Vor allem im Westen ist das so. Egal ob es die Warriors, die Spurs, die Clippers, die Trail Blazers oder die Thunder sind: Alle haben einen herausragenden Point Guard in ihren Reihen, auf den ihr Spiel ausgelegt ist. Warum sind solche Mannschaften also erfolgreicher?

Die Top-Point-Guards, die die Liga überschwemmt haben, können das Spiel ihrer gesamten Mannschaft verändern. Sie reißen Löcher, scoren und kreieren immer wieder für andere. Die meisten Shooting Guards können zwar ähnlich effizient punkten,  sind aber nicht in der Lage, ihre Mitspieler besser zu machen.

Aus diesem Grund werden einige der heutigen Shooting Guards skeptisch beäugt. Sie haben es schwer, in der Point-Guard-Welt eine Nische zu finden, in der sie ihre Stärken ausspielen und trotzdem die Mannschaft zum Erfolg führen können. Einige haben dies geschafft. Es gibt die, denen Point-Guard-Aufgaben überlassen werden, wie Manu Ginobili oder James Harden. Es gibt die Shooter, die sich abseits des Balls wohlfühlen, wie etwa Klay Thompson oder Thabo Sefolosha. Doch es gibt auch einige, die diese Nische nicht finden. Sie haben ihr Leben lang den Ball in ihren Händen gehabt und ihre eigenen Würfe kreiert. Das können sie nicht plötzlich ändern.

Jamal Crawford gehört zu dieser Sorte. Der 33-Jährige spielte bereits für die Chicago Bulls, New York Knicks, Golden State Warriors, Atlanta Hawks und Portland Trail Blazers, doch nie blieb er besonders lange. Obwohl er überall ein toller Scorer war, konnte er kein Team wirklich besser machen. Immer wieder ließen die Teams ihn bereitwillig via Free Agency ziehen oder gaben ihn in einem Spielertausch ab.

Bei den Los Angeles Clippers hat er nun endlich die Chance, nicht als Star, aber als wichtige Korsettstange für einen Titelanwärter zu spielen. Und das, ohne seine Identität als Scorer ablegen zu müssen. Denn die Fähigkeit, sich seinen Wurf kreieren zu können, ist genau das, was sie in Los Angeles brauchen.

Chris Paul ist der Mann bei den Clippers. Daran wird sich genauso wenig ändern wie Blake Griffins Status als kommender Superstar. Ganz L.A. baut auf das Duo des besten Vorlagengebers und dem athletischsten Big Man der Liga. Das Problem dabei ist lediglich, dass dieses kongeniale Duo oft auf sich alleine gestellt ist, was das Kreieren von Scoring-Möglichkeiten angeht. J.J. Redick, Jared Dudley, Matt Barnes u.s.w. sind darauf angewiesen, dass ihnen Räume verschafft werden.

Jamal Crawford braucht das nicht. Den Wurf will er sich selber erarbeiten. Er kennt es gar nicht anders. Crawford schaut sich seinen Gegenspieler an, macht einen Crossover auf die eine Seite, auf die andere, dribbelt nach vorne und wieder zurück. Irgendwann hat er seinen Verteidiger dann auf auf dem falschen Fuß erwischt und drückt ab.

Crawford ist nicht besonders schnell und springt nicht besonders hoch. Trotzdem schafft er es stets, seinen Wurf loszuwerden. Er spielt einen Stil, der in der NBA selten zu sehen ist. Den Stil des Streetballs.

Auf den Straßen in L.A. und New York wird das Ballhandling zu einer Kunst erhoben. Jahrelang feilen die Streetballer an ihren Dribblings, mit denen sie sogar NBA-Verteidiger die Knöchel brechen könnten. Im organisierten Liga-Basketball führen diese Ballhandling-Fähigkeiten aber oft zu nichts. In einem Forum der Webseite insidehoops.com fasst es ein User zusammen: „Streetball-Ballhandler sind Ost-West-Dribbler. Sie machen viele raffinierte Moves und bewegen sich von Seite zu Seite. NBA-Ballhandler sind Nord-Süd-Ballhandler. Ihr einziges Ziel ist es, zum Korb zu ziehen.“

Crawford ist wohl eher ein „Ost-West“-Ballhandler – trotzdem hat er es in die NBA geschafft. „Man sieht immer wieder Leute mit einem Streetball-Spiel“, erklärt Isiah Thomas, früher Crawfords Coach bei den Knicks. „Aber sie können es nicht auf ein NBA-Spiel übertragen. Jamal kann das alles gegen echte, lebende NBA-Spieler tun, vor 20.000 Fans.“

Aufgrund seiner Spielweise ist Crawford bei den Fans besonders beliebt. Schon immer wurden die Massen von Dribble-Künstlern magisch angezogen. Jason „White Chocolate“ Williams etwa, der vor einigen Jahren zu einem der beliebtesten NBA-Spieler wurde. Oder Allen Iverson, der mit seinem phänomenalen Crossover die Zuschauer in Ekstase versetzte.

Zu diesen Zuschauern gehört damals auch Crawford. Als Jugendlicher faszinieren ihn die Dribble-Moves der NBA-Spieler. „Der erste Crossover, von dem ich wirklich verzaubert war, war der von Tim Hardaway“, blickt er zurück. „Der nächste war dann Isiah Thomas. Sein Handle war wahrscheinlich das unglaublichste, das ich je gesehen habe. Und Allen Iversons Crossover hat einfach jeden begeistert. Der war echt gemein.“ Damals kann Crawford unmöglich wissen, dass er eines Tages einer der Nachfolger dieser Crossover-Könige sein wird.

Erst mit 15, 16 Jahren wird ihm richtig bewusst, was er mit seinem Crossover für eine Waffe besitzt. Es sind oft andere, die ihn darauf aufmerksam machen. „Mein bester Freund hat mir einmal gesagt: ,Es gibt etwas, das du tust, was ich niemandem erklären kann: die Art, wie du den Ball dribbelst.‘ Ich habe nicht realisiert, dass das so selten ist.“ Das gute Ballhandling führt er auf seinen täglichen Kontakt mit dem Basketball zurück. „Ich habe nie irgendwelche Dribble-Übungen gemacht. Aber ich hatte immer einen Ball in meinen Händen. Als ich draußen auf der Straße lief, hatte ich ihn immer dabei, im Regen oder Schnee. Das ist glaube ich, was die Verteidiger aus der Balance bringt ‑ dass mein Spiel nicht so aussieht wie irgendeine Übung, sondern einfach so fließt.“

Es ist faszninierend, Jamal Crawford beim Basketball spielen zuzuschauen. Keine Bewegung scheint geplant oder bewusst gewählt zu sein. „Er ist der unterhaltsamste Spieler der NBA, was das Vorhersehen seiner Aktionen angeht“, meint Grayson Boucher, einer der bekanntesten Streetballer der Welt.

„Es fühlt sich so natürlich an, wie das Atmen“, erklärt Crawford. „Ich will nicht arrogant klingen oder so, aber ich glaube, es gibt nichts, was ich mit dem Basketball nicht kann. Es ist fast so, als ob ich ein eigenes Lied in meinem Kopf höre. Ich fühle mich wohl dabei. Auch wenn ich den Ball nicht werfe, ihn nur berühre, dann bin ich im Spiel. Und ganz ehrlich, ich weiß gar nicht, was ich tun werde. Ich reagiere einfach nur auf den Verteidiger.“

Jamal Crawford ist ein Spieler, der den Ball in seinen Händen spüren will. Doch er ist kein hervorragender Athlet oder Spielmacher. Er gehört zu einer Sorte Shooting Guards, die heutzutage oft als verzichtbar gelten und spielt eine Streetball-Spielweise, die von Coaches nicht gerne gesehen wird. Und doch ist es genau die Spielweise, die ihm zu einem essentiellen Bestandteil der Los Angeles Clippers werden lässt.

Wenn Chris Paul und Blake Griffin eine Pause brauchen, führt Crawford die zweite Fünf an. Wenn das Pick-and-Roll ins Stocken gerät, stellt er eine wichtige Alternative dar. Wenn Chris Paul gedoppelt wird, hat Crawford die Verantwortung. Das Spiel der Clippers bekommt durch ihn eine neue Dimension.

Besonders lebenswichtig für die Clippers wird er, wenn Chris Paul verletzungsbedingt ausfällt. Als Paul Ende November beim Spiel gegen die Sacramento Kings zum ersten Mal in der Saison aussetzen muss, liefert Crawford eins seiner besten Spiele ab. Denn Doc Rivers überlässt ihm weitgehend den Ball ‑ endlich darf er das ganze Spiel lang so agieren, wie es seinem Instinkt entspricht. Immer wieder dribbelt er in die Zone, lässt seinen Gegenspieler per Crossover stehen und schließt per Jumper oder Leger ab. Auch seine Mitspieler profitieren von seiner Präsenz, allen voran Blake Griffin. 31 Punkte und 11 Assists stehen für Crawford am Ende zu Buche.

Seit dem 3. Januar, als sich Chris Paul eine schwere Schulterverletzung zuzog, befindet sich Crawford nun nicht mehr nur an vereinzelten Abenden in dieser Rolle wieder. In den 16 Spielen seit Pauls Ausfall legt er durchschnittlich 21 Punkte auf. Dass die Clippers nach dem Verlust nicht eingebrochen sind, sondern elf der 16 Spiele gewonnen haben, hat sehr viel mit Crawfords Auftritten zu tun..

Wenn Paul zurückkommt, wird Crawfords Aufgabe als Spielgestalter und Ballführender wieder kleiner werden. Doch er wird mit seinen einzigartigen Fähigkeiten nach wie vor eine wichtige Stütze für sein Team sein. Denn bei den Clippers wird er genauso akzeptiert wie er ist. Er wird nicht vom Scoring  abgehalten, sondern gerade dazu ermutigt, den Abschluss zu suchen. Bei einem Spiel Ende Dezember gegen Denver ruft Doc Rivers seinen Schützling zu ihm her. In der Anwesenheit von Paul und Griffin ist Crawford seiner Meinung nach zu sehr auf das Passen fokussiert. „Komm schon, ich hab dich nicht reingebracht, um passiv zu sein“, flüstert er ihm ins Ohr. Crawford ist überrascht – so etwas hat er noch nicht oft gehört. „Es war etwas merkwürdig“, erzählt er von der Begegnung. „Aber ermutigend.“

Crawford fühlt sich wohl in Los Angeles. „Ich habe hier die Freiheit, das zu tun was ich tue“, erklärt er. Mein Spiel fühlt sich besser an als je zuvor. Ich habe zwei Superstars um mich herum. Es ist unglaublich.“ Man merkt: Jamal Crawford hat endlich ein Zuhause gefunden.