Der Meister mit Sternchen
ALBA BERLIN ist Deutscher Meister 2020. Hinter dem Titel beim BBL-Final-Turnier mag zwar ein Sternchen stehen. Doch auf dem zweiten Blick ist dies auch eine Auszeichnung. Ein Kommentar von Manuel Baraniak.
„Thinking little. Eating. Sleeping. Breathing. Ready for practice.“
Diese Worte könnten auf dem Bubble-Turnier-Shirt stehen, sollte die easyCredit BBL für ihr dreiwöchiges Final-Turnier in München unter Quarantäne-Bedingungen ein solches Shirt auflegen wollen und dafür einen geeigneten Spruch suchen.
Jene Worte sprach Berlins Head Coach Aíto am Tag vor dem Final-Hinspiel gegen Ludwigsburg, als zum ersten Mal während des Turniers keine Partie angesetzt war. Aíto wurde von BBL-Mitarbeiter Sven Simon gefragt, wie er jenen Tag nutzen wolle. Zuvor hatte Aíto beim obligatorischen Lagerkoller-Barometer seinen persönlichen Gemütszustand verraten sollen. Erneut stellte Aíto auf die Eins – den Tiefstwert. Tiefenentspannt eben.
Und dennoch hat Aíto sein Team zu Höchstleistungen getrieben. Wieder einmal. Seitdem er 2017 das Head-Coaching-Amt in Berlin angetreten ist, gab es für die Albatrosse wettbewerbsübergreifend achtmal die Möglichkeit, in eine Endspielserie bzw. in ein Endspiel einzuziehen. Siebenmal ist dies Aíto und Co. gelungen, zwei Titel stehen dabei zu Buche.
Nach dem Pokalerfolg in diesem Jahr hat ALBA BELRIN nun auch die Deutsche Meisterschaft gewonnen: die erste für Berlin seit 2008, zudem das erste Double seit 2003. In jenem Jahr liefen noch der aktuelle deutsche Bundestrainer Henrik Rödl sowie der Münchener Geschäftsführer Marko Pesic für den Hauptstadt-Club auf …
Der erste Meistertitel für ALBA BERLIN seit über einem Jahrzehnt, der insgesamt neunte in der Club-Geschichte, ist vor allem auch Aítos Titel. Mit seinem Amtsantritt folgte in Berlin eine Zäsur: hinsichtlich der Philosophie samt eines prozessbezogenen Ansatzes, die sich sowohl auf dem Parkett als auch hinsichtlich der Präzision im Training niedergeschlagen hat. Aíto fördert und fordert seine Nachwuchsspieler, die Akteure werden in Verantwortung gezogen, bekommen in dem Sinne aber auch spielerische Freiheiten zugesprochen.
Wie sehr die Berliner offensiv Basketball zelebrieren, zeigte sich auch im ersten Finalspiel gegen Ludwigsburg: Gleich zweimal packten sie in Form von Peyton Siva und Martin Hermannsson beim Einwurf den Bauerntrick aus – und das in einem Finalspiel. Geht mehr Spielwitz? Ihre Vielseitigkeit stellten die Albatrosse im dritten Durchgang unter Beweis:
Ein einziger Off-Ball-Screen, um den Rokas Giedraitis für den freien Dreier tanzt. Ein Dreier aus dem Pick-and-Pop von Niels Giffey – seelenruhig, ohne Eile, trotz Ablauf der Wurfuhr. Ein Layup aus dem Schnellangriff von Giedraitis, nach Ballgewinn aus ihrer „Next“-Pick&Roll-Defense. Ein Layup von Niels Giffey nach einem überraschenden Cut von der Strongside-Mitte. Ein trockener Floater von Marcus Eriksson, nach einem Screen aus dem Einwurf-Play gedroppt. Oder ein Hakenwurf von Luke Sikma, nach einem Spin-Move aus dem Face-up – dazu der ungläubige Blick auf seine schwache Hand danach, wenn einfach alles läuft. Keine Mannschaft kann sich schneller und facettenreicher in einen Flow spielen als Berlin.
Apropos Verteidigung: Den Ludwigsburgern gaben die Albatrosse in der Vorrunde etwas von deren eigenen Medizin und packten selbst eine Full-Court-Presse aus. Im ersten Finalspiel ließ Aíto zum Ende der ersten beiden Viertel mit einer 2-3-Zonenverteidigung operieren. Die „Next“-Defense wurde bereits skizziert; dazu sah man auch mal das Run-and-Jump, das kurzzeitige Doppeln an der Mittellinie. Da fehlte nur noch, dass die Berliner noch einmal ihre „Box and One“-Verteidigung gezeigt hätten, mit der sie schon ein paar EuroLeague-Clubs überrascht haben. Kein Team verteidigt flexibler.
Als ich in der Saison 2019/20 den damaligen Bonner Head Coach Thomas Päch, der zwei Jahre als Assistant Coach unter Aíto gearbeitet hat, auf den „spanischen Basketball“ angesprochen und die „Next“-Defense herangezogen hatte, fiel mir Päch fast ins Wort und machte klar: Das sei nicht spanischer Basketball, „das ist Aíto-Basketball“. So sehr hat der 73-Jährige Spiel und Stil der Basketballnation sowie über die Ländergrenzen hinaus geprägt. „Vom Typ her ist Aíto kein Arbeiter, kein Zerstörer – nicht, dass er nicht hart arbeitet, das tut er. Aber er ist ein Künstlertyp“, beschreibt Päch seinen ehemaligen Trainerkollegen.
Aítos Einfluss ist in der jüngsten Vergangenheit auch in der BBL ersichtlich geworden, wenn man den Basketball von Päch (wenn auch nicht erfolgreich) sowie Pedro Calles und Jaka Lakovic beobachtet, welche auch von Aíto sozialisiert worden sind. Calles erklärte mir in der vergangenen Saison: „Für mich, wie auch für viele andere Coaches in Spanien, ist Aíto der Lehrer. [… ] Er ist für mich die erste Anlaufstelle, wenn es darum geht, mein Basketballverständnis zu verbessern.“ Ludwigsburgs Coach John Patrick nennt Aíto schlicht einen der „Godfather des europäischen Basketballs“.
Mit einer fast 50-jährigen Trainerlaufbahn hat Aíto schon alles gesehen. Dennoch: Das Engagement in Berlin bedeutet für den Spanier die erste Station im Ausland. Und einen voll gepackten Kalender wie den der EuroLeague-Saison 2019/20 hatte er auch noch nicht erlebt. Für einen 73-jährigen Coach sicherlich eine neue Herausforderung.
Dieser Rhythmus von teils vier Spielen in acht Tagen mag sicherlich geholfen haben, um sich auf den Turnier-Modus in München einzustellen. Kritiker mögen beim Hinweis darauf, dass der Meister 2020 ein Sternchen trägt, zudem entgegenhalten: Für die Berliner war es doch auch einfach, denn fast alle Spieler kehrten zurück. Neun ausländische Profis standen Aíto demnach zur Verfügung.
Wenngleich dies natürlich finanzielle wie auch persönliche Gründe hat, so darf man das den Berlinern doch nicht entgegenhalten. Und ist es nicht auch ein Beweis für deren Kultur, dass der Großteil des Kaders zurückkehrt?
So kann man das Sternchen hinter dem Meistertitel 2020 auch als Auszeichnung verstehen. Denn die Berliner haben es unter diesen widrigen Umständen – verkürzte Vorbereitungszeit (und die ausländischen Profis weilten meist in ihrer Heimat, dies war bei manch anderen Clubs nicht der Fall), Quarantäne-Bedingungen, die Disziplin erfordern und neben einer physischen auch eine psychische Herausforderung darstellen – geschafft, derart dominant die Meisterschaft einzufahren.
Die Berliner haben dies auch gemeistert, weil sie sich als das konstanteste Team präsentiert haben. Immer zu den Spielen hervorragend eingestellt, meist in den Partien mit den richtigen Lineups aufgestellt. Das liegt natürlich auch an einen Lehrmeister wie Aíto. Tiefenentspannt. Und mit einem einfachen, aber genauso tiefgründigen Credo:
„Thinking little. Eating. Sleeping. Breathing. Ready for practice.“
Nun sind alle bereit für die Offseason. Essen, schlafen. Atmen. Für Aíto auch wieder in der Natur für die Photographie. Irgendwann wir er nachdenken: über seine Zukunft als Trainer. Bei diesem Renommee hätte er eine Rückkehr auf den Trainerstuhl eigentlich nicht nötig. Vor allem nicht nach dieser besonderen Meisterschaft. Sternchen hin oder her.