Derby, D-League, Dinos: die bewegte Laufbahn von Nick Nurse
Nick Nurse steht mit seinen Toronto Raptors aktuell in den NBA Finals 2019. Es ist der vorläufige Höhepunkt einer turbulenten und einzigartigen Reise. Von einem, der auszog, um Trainer zu werden.
„Das wird eine aufregende und wichtige Saison für die Raptors, und ich glaube, dass Nicks Führungsqualitäten für uns wichtig sind, um unser ultimatives Ziel zu erreichen: den Gewinn einer Meisterschaft.“ Mit diesen Worten kündigte Masai Ujiri, General Manager der Toronto Raptors, in der Offseason 2018 den neuen Head Coach Nick Nurse in einem Statement an.
Knapp ein Jahr später lesen sich Ujiris Worte wie eine Prophezeiung. Denn die Raptors haben die erfolgreichste Saison ihrer Geschichte hinter sich und sind ihrem ultimativen Ziel so nah wie nie zuvor. Nach dem Gewinn der Eastern Conference Finals steht das Team aus Kanada zum ersten Mal in den Finals, wo es gegen den Titelverteidiger Golden State Warriors gerade um die Meisterschaft kämpft. Die Raptors sind nach dem 118:109-Auftakterfolg nur noch drei Siege von der Meisterschaft entfernt.
Das Gesicht des Erfolgs ist fraglos Kawhi Leonard, der nach einer starken Saison in den Playoffs teils unmenschliche Leistungen vollbracht hat. In seinem Schatten muss auch Nick Nurse gratuliert werden, der in seinem ersten Jahr als Head Coach direkt in die Finals eingezogen ist. Es ist der – vorerst – größte Erfolg einer langen und beschwerlichen Trainerkarriere.
Erfahrung sammeln in England
Wie viele NBA-Coaches spielt Nurse in seiner Jugend Basketball, allerdings sieht er keine Chance auf eine Karriere als Spieler. Deshalb steigt er 1989 nach vier Jahren an der University of Northern Iowa, für die er als Point Guard aktiv gewesen ist, in den Trainerstab ein.
Nach einem Jahr wechselt er über den großen Teich, um sein Glück in England zu versuchen. Mit gerade einmal 23 Jahren wird er Spielertrainer der Derby Rams in der British Basketball League. Dort liegt der Beginn einer illustren Karriere: Über elf Jahre trainiert Nurse fünf englische Vereine, unterbrochen von Coaching-Jobs an einer US-Uni und bei einem belgischen Erstligaclub. In dieser Zeit zeigt sich, dass Nurse weiß, wie man gewinnt. Mehrere Meister- und Pokaltitel sowie die zweifache Auszeichnung zum Trainer des Jahres stehen aus seiner Zeit in England zu Buche.
Doch der Traum von der NBA lässt ihn nie los. „Ich habe dort Erfahrungen und Fortschritte gemacht, doch es kam ein Zeitpunkt, an dem ich dachte: ,Wie komme ich zurück?’“, erinnert er sich an die Arbeit im Ausland. „Denn egal, wieviel ich hier gewinne, niemand scheint es zu registrieren.”
Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg
Zurück in den Staaten scheitert sein Vorhaben, einen Job in der D-League (heute G-League), der Entwicklungsliga der NBA, zu bekommen. Zunächst. Denn der damals 39-Jährige ist fest entschlossen, diese Liga als Sprungbrett in die NBA zu nutzen. „Ich habe keine Jobs als Assistent in der D-League erhalten. Doch ich wusste, dass das mein Einstieg war.” Da er keines der bestehenden Teams trainieren kann, muss eben ein Neues her.
Er bringt einen Hallenbesitzer, einen willigen Eigentümer und das D-League-Büro zusammen, damit die Iowa Energy als neuestes Mitglied der Liga entstehen. Head Coach der Mannschaft? Nick Nurse. Als „Schlüssel” für seine Anstellung in Toronto bezeichnet Nurse den Job in seinem Heimatstaat Iowa. Denn auch in der D-League überzeugt er und erarbeitet sich den Ruf als Offensiv-Genie.
Nach Divison- und Conference-Siegen gewinnt Iowa Energy 2011 die Meisterschaft und Nurse den Titel als Trainer des Jahres. Zwei Jahre später holt er mit den Rio Grande Valley Vipers, um den Deutschen Tim Ohlbrecht, erneut die Meisterschaft. Nach diesem Erfolg erfüllt sich endlich der Traum von der NBA: Die Toronto Raptors holen Nurse als Assistenten für Head Coach Dwane Casey.
Historisch gut – in der regulären Saison
Toronto spielt in den vergangenen fünf Jahren – seit Nurses Ankunft – den erfolgreichsten Basketball der Franchise-Geschichte. 263 Siege stehen 147 Niederlagen gegenüber, die Raptors erreichen stets die Playoffs. Doch dort überzeugt das Team aus Kanada nicht: Zweimal scheidet das Team in der ersten Runde aus. Anschließend wird das Team besser – und scheitert dreimal krachend an LeBron James und seinen Cleveland Cavaliers.
Die Stars Kyle Lowry und DeMar DeRozan geraten in die Kritik, die Stadt wird als „LeBronto“ verspottet. GM Masai Ujiri zieht die Reißleine und feuert Dwane Casey, der kurz zuvor als Trainer des Jahres ausgezeichnet wird.
Nach fast 30 Jahren angekommen
Und so erhält Nick Nurse im Sommer 2018 den Anruf, auf den er seit 1990 in England hingearbeitet hat: Ujiri macht ihn zum Head Coach der Raptors. Casey hinterlässt mit seiner Auszeichnung und einer 59-Siege-Saison große Fußstapfen, durch den Trade für Kawhi Leonard erhöht sich der Erfolgsdruck auf den neuen Trainer weiter. Ujiri riskiert mit diesen zwei Personalien viel – und drückt gleichzeitig das große Vertrauen in den Rookie-Coach aus.
Sein Plan geht auf: Dank Leonards Leistungen, doch auch dank Nurses Coaching, stehen die Raptors in den NBA Finals 2019. Auf dem Weg dorthin gewinnt auch Nurse die Sympathien vieler Basketballfans (und Drakes): durch lässiges Auftreten oder Meme-würdige Gesichtsausdrücke.
Integration eines Superstars
Zu Beginn der Saison dürfte besonders Leonard dem Trainer ein wenig Kopfzerbrechen bereitet haben, schließlich ist es kein Geheimnis, dass der Forward gegen seinen Willen im hohen Norden gelandet ist. So muss Nurse einen Superstar integrieren und gleichzeitig seine Mannschaft auf dessen Spielstil einstellen.
Diese Aufgabe meistert Nurse,, in der regulären Saison bleiben die Statistiken beinahe identisch zum Vorjahr. Einen Sieg weniger (58) fährt Nuse ein, im Offensiv (112,5)- und Defensiv-Rating (106,8) belegen die Raptors den fünften Platz in der gesamten Liga.
Besonders beeindruckend sind die erneuten Anpassungen nach dem Trade für Marc Gasol, der als Passing-Big-Man in den Angriff integriert werden muss. Nurse gelingt es, in den Playoffs mit einem Lineup Erfolg zu haben, das bis dato so gut wie ga rnicht zusammen gespielt hat. Lowry, Danny Green, Leonard, Pascal Siakam und Gasol sind vor den Playoffs in 14 Spielen gerade einmal 161 Minuten gemeinsam auf dem Court gestanden.
In den Playoffs balanciert Nurse die schwankenden Leistungen von Spielern wie Norman Powell oder Fred VanFleet aus und findet im Ost-Showdown ein probates Mittel gegen Superstar Giannis Antetokounmpo.
Die Krönung steht noch aus
Nurse arbeitet auch auf der größtmöglichen Bühne wie zuvor auf all seinen Stationen: Er nimmt, was ihm zu Verfügung steht, und experimentiert, wie er damit gewinnen kann. Kritik kam auf an seinen Lineups, der schwachen Bank und Nurses Coaching in den letzten Minuten eines Spiels. Nurse ist ruhig geblieben – und der Erfolg gibt ihm recht.
Im Sommer wird er zudem die Nationalmannschaft Kanadas trainieren. Jetzt, 30 Jahre nach seinem Wechsel auf die Trainerseite, steht er in den NBA Finals an der Seitenlinie. Der Titelgewinn gegen die hoch favorisierten Golden State Warriors wäre die Krönung einer unglaublichen Reise.