Die Russell-Revolution (I)

Nach der Trilogie über Michael Jordan folgt der nächste geschichtliche-gesellschaftspolitische Dreiteiler von Christian Orban: diesmal zu Celtics-Legende Bill Russell.

Bill Russell gilt als der größte Gewinner im nordamerikanischen Profiteamsport. Auch ist er als Gründervater der NBA gefragt und generell eine hochgeachtete Persönlichkeit. Seine einst revolutionäre Wirkkraft kommt indes nur spärlich zur Sprache. Ein guter Grund, um einen Deep Dive zu unternehmen und ihn ganzheitlich zu würdigen. Der erste von drei Teilen gewährt einen Überblick und widmet sich dem „Game Changer“ Bill Russell.

Elf Meisterschaften in dreizehn Profijahren (1956-1969), dabei acht Finalerfolge und zehn Finaleinzüge in Folge, fünf MVP-Titel, zwölf All-Star- und elf All-NBA-Nominierungen, zwei NCAA-Championships mit der University of San Francisco (1955, 1956) sowie Olympia-Gold mit Team USA bei den Spielen von Melbourne (1956) – die sportlichen Karriereerfolge von William Felton Russell lesen sich eindrucksvoll. Aus gutem Grund gilt der Grandseigneur der NBA als großer Gewinner. Ein Label, das im von Rankings getriebenen US-Sport nur allzu gern verliehen wird.

Derweil fungiert Russells Erfolgsgeschichte nicht selten als eindimensionale Meistererzählung voller Rekorde und Superlative, die der vielgestaltigen Lebensleistung des heute 86-Jährigen kaum gerecht wird. Gewiss, die unerreichte Erfolgsbilanz unterstreicht seine sportliche Dominanz, jedoch ohne diese auszubuchstabieren. Ebenso bleibt Russells übersportliche Relevanz zumeist ein Randthema.

Seine defensive Meisterhaftigkeit etwa verhalf den Boston Celtics nicht allein zu elf Titelgewinnen, vielmehr veränderte sie das Spiel nachhaltig. Durch erstere trug der prototypische Teamspieler dazu bei, den Basketball zu einem schnelleren, athletischeren und attraktiveren Sport zu machen. Auch seine Präsenz als politischer Athlet, die unmissverständliche Selbstachtung und sein Schwarzer Stolz waren von Gewicht. Männlichkeit und Persönlichkeit nannte Russell seinerzeit als Erfolgsgaranten. „We see each other as men. We judge a guy by his character“, ließ er nach dem finalen Titelgewinn 1969 verlauten.

Wegbereiter

Als Vorkämpfer hob Russell die „Rassentrennung“ in der NBA zwar nicht auf – dies leisteten 1950 die Pioniere Earl Lloyd, Chuck Cooper, Nat Clifton und Hank DeZonie –, doch veränderte er die Liga, während er das Spiel revolutionierte. Er war der erste Schwarze Ausnahmespieler, der die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich zog und sein Team als Franchise-Player trug.

Russell war der Defensivanker und Grundpfeiler der Celtics-Dynastie, die das Versprechen der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung exemplarisch einlöste. Wechselseitige Wertschätzung und Verbundenheit herrschten im kultivierten Kelten-Kollektiv unter Übervater Red Auerbach vor. Afroamerikaner wie Willie Naulls, Tom Sanders, Sam und K.C. Jones erhielten ihre Chance. Als wichtige Zahnräder agierten sie in der von Auerbach konstruierten und durch Russell angetriebenen „Green Machine“.

Als ausbalancierte Vorzeigemannschaft verkörperten die Celtics sonach die Sozialvision der harmonischen Zusammenarbeit grundverschiedener Menschen – die überaus erfolgreich Teambasketball zelebrierten. Gemeinschaftlich schrieben sie während der umkämpften Zeit der Bürgerrechtsbewegung eine amerikanische Wohlfühlgeschichte. Vorbildhaft veranschaulichten die Grünen für viele geräuschlos gelebte Integration.

Russell selbst repräsentierte durch sein Auftreten und Aussehen die zusehends aufscheinende Verbindung von Basketball und Schwarzsein. In kultureller wie politischer Hinsicht. Zumal er zugleich weiß getünchte Ideale des Teamsports – Selbstlosigkeit und Hingabe, Integrität und Spielintelligenz – beispielhaft vorlebte. Auch zum Leidwesen seines engen Freundes Wilt Chamberlain, der den Russell-Celtics im Meisterschaftsrennen mit den Warriors, Sixers und Lakers wiederholt unterlag (1967 ausgenommen).

Überdies machte Auerbach seinen Führungsspieler 1966 zum ersten Schwarzen Headcoach in der Association. Als Spielertrainer errang Russell mit den Kelten in drei Jahren zweimal den Titel. Im Profibasketball trat er als Türöffner für gleichberechtigte Teilhabe ein, wovon etwa Lenny Wilkens (1969, SuperSonics) und Al Attles (1970, Warriors) als ihm nachfolgende afroamerikanische Übungsleiter profitierten.

Politischer Athlet

Dabei ist der Vorkämpfer keineswegs einfach einzuordnen. Geprägt durch die Bürgerrechts- und Black-Power-Bewegung der 60er Jahre handelte Russell innerhalb schrittweise integrierter Institutionen wie dem Profibasketball, unterdessen er die Doppelstandards der weißen Mehrheitsgesellschaft forsch herausforderte und für das Schwarze Amerika eintrat. Die offen politische Dimension, die er als Wortführer seinerzeit selbstbestimmt ins Spiel brachte, bleibt im US-Profibasketball unerreicht.

Prinzipientreu kam Russell für viele Beobachter als mürrischer, finster dreinblickender und thronender Querdenker daher. Als unnahbarer und unangepasster Unruhestifter, der den Status quo unterminierte.

Schließlich brach er mit den Erwartungen des Mainstreams, womit er der Bewunderung der Massen entsagte. Der von Schwarzen Athleten eingeforderten Dankbarkeit und Unterwürfigkeit erteilte er eine klare Absage, die seine Umstrittenheit und eben nicht die Fanliebe begünstigte. Stattdessen nutzte er als Prototyp des politischen NBA-Profis seine Plattform und prangerte das rassistische Klima in Boston sowie die anderswo vorherrschende „Rassentrennung“ vehement an. Er hinterfragte das Mantra des gewaltlosen Bürgerrechtsprotests und zog die positive soziale Kraft des Sports in Zweifel.

Als Individualist forderte Russell die Mehrheitsgesellschaft dazu auf, ihn als komplexen Charakter, als Mann und Menschen, und nicht bloß als Entertainer-Athlet anzuerkennen. Russell lebte und verlangte Inklusion. Er verkörperte afroamerikanische Selbstheit und Stolz, ein unapologetisches Schwarzsein – während der Dauererfolg der Celtics und seine Duelle mit Wilt der NBA Profil gaben und ihr Stabilität verliehen.

In den 60er Jahren entwickelte sich die Association zu einem tragfähigen Business. Die Liga expandierte, und sechs Franchises (fünf Westteams) kamen hinzu. Auch nahm sie zunehmend afroamerikanische Profis auf (1960 betrog ihr Anteil 24, 1965 50 Prozent) und konnte mit einem beschleunigten Spiel aufwarten. So veränderte sich auch die kulturelle Bedeutung des Basketballs in einer sich wandelnden US-Gesellschaft, in der die „Rassenschranken“ zusehends herausgefordert wurden.

In diesem Kontext sportlicher und sozialer Transformationen war es Bill Russells politische Präsenz, die polarisierte und nicht wenige Zeitgenossen provozierte. Gleichzeitig bespielte der Nonkonformist amerikanische Ideale, derweil er amerikanische Missstände kritisierte. Geachtet als siegreicher Athlet und kontrovers als politischer Akteur, führte er die Basketball basierte Russell-Revolution an.

Shipping Up to Boston

Als Russell Ende 1956 in Boston ankam, eilte ihm bereits der Ruf eines Gewinners voraus. Schließlich hatte er die USF Dons zuvor zu zwei College-Meisterschaften in Folge und dabei zu einer Siegesserie von 60 Spielen geführt. Nationale Medien sagten dem 22-jährigen All-American, der als 20-20-Center autoritär die Zone dominierte, eine große Profikarriere voraus.

Auch hatte der gebürtige Louisianian mit den innovativen Dons die integrierte Zukunft des Basketballs erfolgreich zur Schau gestellt. Denn drei Schwarze Starter – Russell, K.C. Jones und Hal Perry – waren Mitte der 50er Jahre nicht nur in der NCAA ein Novum.

Auf diesen Mehrheitsverhältnissen gründete wiederum das Geschäftsmodell der Harlem Globetrotters, die Russell 1956 zu verpflichten suchten. Doch der Paternalismus von Teamboss Abe Saperstein und dessen Anwartschaft auf Schwarze Talente missfielen ihm. Die für ein Mehrheitspublikum aufgeführten stereotypen Showeinlagen der „Globbies“ lehnte er ab.

Ohnehin wurde der 2,08-Meter-Mann im Vertragsgespräch wie ein unmündiger Nebendarsteller behandelt. Stattdessen war es der euroamerikanische Coach, der Russell begleitete, mit dem Saperstein über dessen Zukunft verhandelte.

Da die weißen Männer ein exklusives Zwiegespräch führten, erteilte Russell diesem unsäglichen Machtspiel sowie dem lukrativen Angebot eine klare Absage. Als selbstbewusster, stolzer Schwarzer Mann nahm er lieber weniger Geld und schloss sich daraufhin den Celtics an. Eine weise Entscheidung, die für ihn auch finanziell aufging. So wahrte der College-Senior seine Würde und avancierte fünf Jahre später zum bestbezahlten Spieler der NBA.

1956 nahm Russell als Sportpatriot zunächst an den Olympischen Spielen teil, wo er mit Team USA im australischen Sommer unbesiegt Gold holte. Zu den Celtics konnte der zweite Pick des Drafts sonach erst im Dezember des Jahres stoßen.

Im Vorfeld hatte sich Teamarchitekt Red Auerbach durch Absprachen und einen weitsichtigen Trade dessen Rechte gesichert. Zwei zukünftige Hall of Famer – All-Star-Center Ed Macauley sowie den hoch eingeschätzten Rookie-Wing Cliff Hagan – schickte er für Russell zu den St. Louis Hawks. (Nach eigener Aussage hätte Russell dort nie gespielt: „St. Louis was overwhelmingly racist. If I would’ve gotten drafted by St. Louis, I wouldn’t have been in the NBA.“)

In Beantown wurde Auerbachs Wunschspieler (1956 draftete er zudem dessen College-Buddy K.C. Jones sowie Tom Heinsohn) erwartungsvoll begrüßt. Celtics-Eigner Walter Brown und Topscorer Bill Sharman überreichten Russell und seiner Ehefrau Rose den Schlüssel zur Stadt. Zudem unterzeichnete der medial begleitete Neuankömmling einen Vertrag in Höhe von 19.500 US-Dollar. Bis dahin der höchstdotierte Rookie-Vertrag. „No basketball player in recent years has received so much nation-wide attention. No newcomer to professional ranks has ever been asked to launch his career under such pressure“, verkündete der Boston Herald.

Indes war der schlaksige Hoffnungsträger dem aufgebauten Druck sichtlich gewachsen. Bei seinem NBA-Debüt gegen St. Louis kam Russell zwar nur auf sechs Zähler, da er im Angriff ohne zuverlässigen Wurf teils unbeholfen agierte – jedoch pflückte der Linkshänder in 21 Spielminuten starke 16 Rebounds und leitete den Schnellangriff gekonnt per Outlet-Pass ein. Obendrein brachte er in der Verteidigung sofort seine physische Präsenz als herausragender Shotblocker ein.

Russell setzte seine langen Arme und den kantigen Körper perfekt ein. Er fiel kaum auf Täuschungen herein, antizipierte Situationen, rotierte im horizontalen Spiel clever und leichtfüßig in die Lücken. Und vor allem: Wie kaum jemand vor ihm ging der agile und sprunggewaltige Ausnahmeathlet in die Luft und lotete die vertikalen Möglichkeiten auf ungekannte Weise aus.

Den Ball hielt Russell dabei meist im Spiel; routiniert lenkte er die im Duell Mann-gegen-Mann oder als Help-Defender geblockten Würfe in die Hände seiner Mitspieler, die dann für zwei leichte Punkte den Fastbreak liefen.

Hawks-Big-Man Ed Macauley erinnerte eine exemplarische Szene: „There was no reason for Russell to be anywhere near me. He was someplace else guarding … So I went up for the shot and there was no problem. Except that Russell came out of nowhere and slapped the ball directly over my head.“ Bevor „Easy Ed“ die Abwehraktion verarbeiten konnte, hatten die Celtics bereits via Tempogegenstoß gepunktet. Freie Sprungwürfe und einfache Korbleger waren gegen sie fortan rar, was in der noch erdverbundenen Liga viele erst lernen mussten.

Game Changer

Der mobile Ringbeschützer und Rebounder veränderte als Rookie nicht nur das Denken gegnerischer Offensiven – sondern er lockte auch zahlende Zuschauer in ungeahnten Zahlen in die Arenen. Bereits sein Profidebüt zog mehr als 11.000 Fans in den Boston Garden, dessen Ränge beim Basketball in der Regel halb leer blieben. Und auch auswärts regierte die ikonische Nummer sechs unter den Körben ausverkaufter Hallen. „Bill Russell is the first real gate attraction the National Basketball Association ever had“, erklärte Celtics-Boss Brown Anfang 1957.

Eddie Gottlieb, der Macher der konkurrierenden Philadelphia Warriors, prangerte hingegen an, dass Russell wiederholt Goaltending begehen sowie eine unzulässige Ein-Mann-Zonenverteidigung spielen würde. So war seine revolutionäre Defensivarbeit schlichtweg Ehrfurcht gebietend und brachte manch einen eben in Rage oder Erklärungsnot … Alldieweil der Rookie nach neun Partien bereits dreimal die Marke von 30 Rebounds durchbrochen hatte. „Russell is a dominant figure in the N.B.A.“, bedeutete der Boston Globe voller Bewunderung.

Russells Reboundstärke und Defensivpräsenz trugen derweil zu einer Umgestaltung des Spiels bei. Die Wurfquoten waren ohnehin im Steigen begriffen, die Offensiven effizienter, während die Einführung der Shotclock (1954) den Basketball signifikant beschleunigt hatte.

Etwa brachte Bostons Backcourt-Duo, ein ballgewandter Bob Cousy und wurfstarker Bill Sharman, seit Jahren ein temporeiches Angriffsspiel aufs Hartholz. Russells Befähigungen beförderten und befeuerten diesen Spielstil nun zusätzlich. Er hievte den Fastbreak der Celtics auf ein neues Niveau. „When Russ came the game changed. Victory was predicated on rebounds and possession and he certainly supplied that“, betonte der „Houdini of the Hardwood“ rückblickend.

Dabei drehte sich Russell beim Rebound schon in Richtung des gegnerischen Korbes, um sodann den Ball noch vor der Landung in den Lauf seiner nach vorne sprintenden Mitspieler zu feuern, die dann den Rest regelten.

Unterdessen zwang der omnipräsente Leichtbau-Big – der kleinere Gegenspieler übernehmen konnte und obendrein kaum Fouls beging – gegnerische Offensiven zu einer Anpassungsleistung und stiftete in ihren Reihen Verunsicherung. „Nothing’s sure when Russell’s around“, pointierte All-Timer Dolph Schayes, 1955 NBA-Champ mit Syracuse. „Even if he’s not guarding you, he always has a hand in the way.“

Ob Russells einschränkender Präsenz sahen sich Angreifer dazu veranlasst, das Feld weiter zu machen, das Spiel zu verlagern und Sprungwürfe herauszuspielen. Und zugleich war ihrerseits mehr Länge, Körperlichkeit, Schnelligkeit, Beweglichkeit und Vertikalität gefragt, um Russells Dominanz in der Zone begegnen zu können.

Allrounder, die solche Fähigkeiten mitbrachten, kamen (auf allen Positionen) um 1960 verstärkt in die Liga: Ausnahmespieler mit solch klangvollen Beinamen wie „The Big Dipper“ Wilt Chamberlain, „The Big O“ Oscar Robertson, „Mr. Inside“ Elgin Baylor und „Mr. Clutch“ Jerry West.

Dass das erdgebundene, methodische Spiel der 50er durch die Russell-Revolution hinweggeblockt wurde, musste Phillys 20-10-Center Neil Johnston beispielhaft erfahren. Gegen Russell sah der dreimalige Topscorer der NBA und Champ von 1956 mit seinen flachen halben Haken keinen Stich. Oder besser: nur dessen blockbereiten Hände. „I figured I could block nine out of ten of them“, sekundierte Russell.

1959 trat Johnston nach einer schweren Knieverletzung mit nur 30 Jahren zurück. Die NBA hatte sich nicht nur spielerisch effektvoll gewandelt.

Weiße „bush league“

Als Russell 1956 in die Association eintrat, hatte die unstete Liga eine gewisse Stabilität erreicht. Durch gezielte Regeländerungen und eine neue Spielergeneration erhielt der US-Profibasketball ein innovatives Upgrade. Zuschaueranreiz und kommerzieller Erfolg, wenn noch deutlich ausbaubar, stellten sich alsdann allmählich ein. Die boomende Nachkriegswirtschaft und Konsumkultur ermöglichten ein Wachstum des Profisports. Zumal der Wettbetrugskandal im Collegebasketball (1951) dem Ansehen der Konkurrenzunternehmung NBA kaum abträglich war.

Gleichwohl galt die Association seinerzeit nicht wenigen Kritikern noch immer als „bush league“. Schreihalsige Trainer, inkompetente Schiedsrichter, raufende Spieler und ein entsprechendes Publikum trübten den Ruf der naszierenden Liga, die anfänglich lediglich acht Teams in zwei Divisionen umfasste.

Die südwestlichste Franchise war in St. Louis beheimatet, die nördlichste in Minneapolis. Drei Klubs (Rochester, Syracuse, NY, und Fort Wayne, IN) befanden sich in kleineren Städten des Industriegürtels. Große Märkte (wie Chicago, Detroit und die Metropolregion von Washington, DC) wurden abgesehen von New York City und Philly noch nicht bespielt. Der vorherrschende Einnahmedruck bedingte eine überlange reguläre Saison (bereits 72 Spiele), während ohnehin sechs Mannschaften an den Playoffs teilnahmen.

Hinzu kamen paternalistische Teameigner, die die Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen dominierten und ihre Angestellten sparsam vergüteten. Viele Spieler verdienten jährlich unter 5.000 US-Dollar. Alldieweil eine erst entstehende Spielergewerkschaft (NBPA) um Zugeständnisse und Zuwendungen ringen musste …

Außerdem kam Russell 1956 in eine weiße Liga. Anfänglich war er der einzige Schwarze Celtic und ligaweit einer von nur 15 Afroamerikanern (allein vier von ihnen in Rochester). Erstmals waren in der vorherigen Spielzeit mehr als zehn Schwarze NBA-Profis beschäftigt worden. In der Saison 1957/58 waren es dreizehn, wobei Sam Jones zu den Kelten stieß. Namensvetter und Russell-Buddy K.C. Jones folgte ihm (nach Ableistung des Militärdienstes) ein Jahr später, als insgesamt 19 Afroamerikaner in der Association aufliefen. Doch selbst um 1960 herrschte innerhalb der Liga noch eine inoffizielle Absprache vor, die die Anzahl Schwarzer Profis auf vier pro Team begrenzte.

Situiert in diesem Setting, trat der erste Schwarze „NBA-Star“ von Beginn an in die überlebensgroßen Fußstapfen identitätsstiftender Repräsentanten: wie Leichtathletik-Olympiasieger (1936) Jesse Owens, Schwergewichtsweltmeister (1937-1949) Joe Louis und Baseballpionier (1947) Jackie Robinson.

Ihr würdevolles Auftreten, ihre Leistungen und Erfolge erweckten in den afroamerikanischen Gemeinden Selbstachtung und Stolz, Zugehörigkeit und Zuversicht. In einer weitgehend segregierten US-Gesellschaft fungierten sie als Bahnbrecher und Botschafter. Sie standen und stehen für die Befähigung und Anständigkeit Schwarzer Menschen – die Chancengleichheit und gleichberechtigte Teilhabe anstreben.

„My own little revolution“

Auch Russell sah sich auf und neben dem Spielfeld als Vorkämpfer. Schon als Rookie verdiente sich der selbstbewusste, aber feinfühlige Franchise-Player den Respekt seiner Kollegen und tausender Zuschauer. Dennoch war er in einem weißen Amerika – genauso wie sein Vorgänger und Vorbild Jackie Robinson – mitnichten vor verbalen Demütigungen und der vorherrschenden Diskriminierung gefeit.

Nicht zuletzt aus Selbstschutz und um stereotypen Zuschreibungen keine Angriffsfläche zu bieten, zeigte sich der Jungprofi stolz und distanziert. „I would not be unfriendly, but at the same time I did not want the reputation of being just a laughing, joking Negro“, erläuterte Russell.

Mitneuling Tom Heinsohn, ein kettenrauchender „Gunner“, lernte Russells reservierte Haltung zu verstehen und schätzen. Etwa als dieser in St. Louis (damals der „südlichste“ NBA-Außenposten) nicht mit seinen Teamkollegen ausgehen wollte, weil er wusste, dass ihm als Afroamerikaner der Service versagt werden würde …

Überdies vermied Russell das traditionelle „Rookie Hazing“ (Botendienste, Spötteleien, usw.), wohingegen Heinsohn gutmütig für ihn mitspielte. Einordnend merkte Veteran Bob Cousy hierzu an: „When you have a player who is setting attendance records all around the league, you tend to think twice before you send him down to the corner for a coke.“

Im Gegenzug adaptierte der Big Man seine Spielweise, um die Stärken seiner Teamkollegen zu akzentuieren. So nahm sich Russell als Korbjäger zurück und lieferte bereitwillig Rebounds und bissige Defense – während die dankbaren Scorer „Cooz“, „Bullseye Bill“ (Sharman) und „Tommy Gun“ offensiv glänzen konnten.

So gewannen die Celtics im Frühjahr 1957 ihren ersten Titel, als sie die Hawks in einem siebten Finalspiel nach zweifacher Verlängerung bezwangen. Nicht zuletzt dank „Rookie of the Year“ Tom Heinsohn, der 37 Punkte und 23 Rebounds markierte. Russell legte in der Finalserie seinerseits (bei schwachen Wurfquoten) 13,3 Punkte, 22,9 Rebounds und 3,3 Assists auf.

Ein Jahr später gelang dem Team um Ausnahmespieler Bob Pettit und Abo-All-Star Cliff Hagan die Revanche – auch weil sich Russell in Spiel drei eine Knöchelverletzung zuzog und danach kaum einsatzfähig war.

Die 58er Hawks waren zugleich die letzte ausschließlich weiße Meistermannschaft der NBA, bevor die Celtics 1959 ihre Vormachtstellung demonstrierten: In den Finals sweepten sie die Minneapolis Lakers um Top-Rookie Elgin Baylor.

Ihren Siegeswillen und Teamgeist – vorgelebt und verkörpert durch Basketballarbeiter Russell – benannten Auerbachs Mannen als Erfolgsgründe. „Practically everything we do is predicated on Bill’s rebounding“, lobte Cousy den selbstlosen Big Man, der in den 59er Finals in durchschnittlich 46,5 Einsatzminuten 29,5 Rebounds verbuchte (hinzu kamen 5,3 Assists).

Aber trotz der zunächst entfachten Begeisterung und Bostoner Titelerfolge blieb Russell vielen Fans und Fachjournalisten ein Rätsel. Besonders im Vergleich mit Lokalheld und Medienliebling Cousy erschien er als unterkühlt, unnahbar oder gar abweisend. Derweil mussten die Celtics in einer umkämpften Sportstadt ohnehin um konstanten Zuschauerzuspruch ringen; obendrein war Lenker Auerbach im (öffentlichen) Umgang kein einfacher Charakter.

Das traf gewiss auch auf Russell zu, der sich geringgeschätzt und ungewürdigt fühlte. Etwa als ihn die Spieler 1958 zum wertvollsten Akteur der Liga wählten (erst seit 1980 wird dieser durch Medienvertreter bestimmt) – der erste afroamerikanische MVP seitens der Presse aber nicht für das All-NBA First Team nominiert wurde. In einem anderen Jahr, als die Schwarzen Spieler während der Saisonvorbereitung in Dallas getrennt untergebracht werden sollten, brach Russell das Schaulaufen ab und bespuckte einen weißen Verantwortlichen …

Ohnehin war es seinerzeit eine weit verbreitete Vorstellung, dass afroamerikanische Profis schlicht dankbar dafür sein sollten, dass sie die Möglichkeit erhielten, ein Spiel zu spielen und dafür bezahlt zu werden. Teameigner und -entscheider redeten die Beiträge und Leistungen Schwarzer Athleten oftmals klein. Zumal sie diese in Vertragsverhandlungen als Gesprächspartner häufig nicht ernst nahmen oder schlichtweg ignorierten (siehe auch Russells Erfahrung mit den „Globbies“). Und nicht zuletzt wussten beide Seiten ganz genau, dass Afroamerikanern in einer rassistischen Gesellschaft wenige Türen offenstanden.

In einer von Weißen beherrschten Profiliga weigerte sich Russell indes, klein beizugeben und sich teils ungeschriebenen Regeln zu beugen. Denn er wusste Bescheid. Der Sport war aus seiner Sicht ein Geschäft – und er verdiente seinen Anteil, den er entschieden einforderte:

Professional sports is a profession. The owners are never going to be in love with you. Never. They’re in it to make money and you’re in it to make money and never the twain shall fully meet …

They say, ‘You have a big earning capacity. You’ve had more breaks than most Negroes.’ And I tell them to go to hell. Because I know the reason I have what I have is that I have the ability. Nobody said, ‘Here’s a nice little Negro boy I should give a break to.’ They say, ‘Here’s an athlete who can help us.’ That’s what they pay me for. That and nothing else.

Trotz unmissverständlicher Worte agierte Russell als Schwarzer Vorkämpfer auch imagebewusst. Hinsichtlich der eigenen Offensivskills zeigte er sich betont bescheiden; seine Mit- und Gegenspieler sowie das Teamspiel lobte er dagegen offen heraus. Indes insistierte er darauf, dass seine herausragenden Defensivleistungen nicht nur seiner Körperlichkeit, sondern vor allem seiner (Spiel-)Intelligenz geschuldet seien.

Als Individuum wollte der selbstbestimmte Schwarze Mann anerkannt werden. „I don’t want people to stereotype me ever“, bedeutete Russell.

Auch daher fuhr er keinen bei „Hustlern“ angesagten Cadillac, sondern einen Chrysler. Er trug übergroße, maßgeschneiderte Anzüge mit extralangen Ärmeln und Hosenbeinen, die der eng und kurz geschnittenen Mode Schwarzer Hipster entsagten. Zumal er zu einer Zeit einen auffälligen Kinnbart trug, als Gesichtshaar nicht nur bei Athleten weithin verpönt war. (Bartträger waren potenziell verdächtig und galten als Vertreter einer Gegenkultur.)

So konnte und wollte Russell anders sein, sich stilsicher abheben – wobei er wusste, dass er damit den Mainstream herausforderte und Missbehagen hervorrief. „Maybe it’s just my own little revolution“, wie er seine Selbstpräsentation nonchalant kommentierte.

Um 1960 hatte der unangepasste Mr. Russell nicht nur als Athlet dem Ballsport seinen Stempel aufgedrückt, er hatte auch als Akteur neue emanzipatorische Wege beschritten. In der Nachlese wird die Russell-Revolution indes zuvorderst an zwei Positionierungen ersichtlich: einerseits anhand seiner politischen Selbstbestimmung im Zuge der afroamerikanischen Bürgerrechtsbewegung. Anderseits anhand der viel besprochenen Rivalität mit einem überdominanten Wilt Chamberlain.

Am Montag, dem 13. Juli, folgt der zweite Teil der Russell-Revolution.