Seiten aus dem Playbook: Telekom Baskets Bonn unter Tuomas Iisalo

Tuomas Iisalo hat den Zauber von den Merlins mit nach Bonn genommen. Unter seiner Führung stellen die Telekom Baskets aktuell die beste Offense der BBL. Im Mittelpunkt: erneut ein kleiner Point Guard als MVP-Kandidat. Der Blick in das Playbook Iisalos zeigt die Bedeutung des Pick-and-Rolls und die Besonderheit von Ghost-Screens.

Das Auftaktspiel der BBL-Saison 2021/22 war seine Coming-Out-Party: Parker Jackson-Cartwright zeigte der gesamten deutschen Basketballöffentlichkeit, was ein MVP der zweiten französischen Liga so drauf hat. Mit 25 Punkten, fünf Rebounds, fünf Assists und sechs Steals sowie dem letzten Korb aus dem Feld – und damit dem Gamewinner – führte der Point Guard die Telekom Baskets Bonn am 23. September 2021 zum 88:86-Überraschungserfolg in Berlin. One Hit Wonder?

Von wegen. Auch eineinhalb Wochen später hatten die Bonner im Pokal-Achtelfinale die Albatrosse am Rand einer Niederlage. „PJC“ glänzte erneut, diesmal mit 26 Zählern und neun Assists, doch sein Team zog mit 80:83 knapp den Kürzeren. Doch der wiederholt starke Auftritt Parker Jackson-Cartwrights – nicht gegen irgendein Team, sondern gegen die Mannschaft mit der vielleicht beste Defensive des vergangenen halben Jahrzehnts in der BBL – sorgte für „For real“-Momente … und Wortspiele von dieser Seite.

„Here to stay“, sagt der US-Amerikaner, wenn ein Team oder ein Spieler klarmacht, dass es bzw. er dort hingehört: punktuell auf Augenhöhe mit dem Titelverteidiger, zumindest in der regulären Saison, konstant ein Playoff-Anwärter, mit dem Potential für den Heimvorteil. Mit einer Bilanz von 12-4 stehen die Bonner zur Saisonhalbzeit auf dem ersten Platz – was für eine Steigerung zur enttäuschenden vergangenen Spielzeit.

Es scheint, als habe Tuomas Iisalo den Zauber von den HAKRO Merlins Crailsheim mit nach Bonn genommen. Mit einem Offensiv-Rating von 116,9 Punkten pro 100 Possessions stellen die Bonner die derzeit effizienteste Offensive der Liga (zum Vergleich: Das wäre 2020/21 der fünftbeste Wert der Liga; Crailsheim 2020/21 unter Iisalo: 114,7 Punkte pro 100 Possessions), die Handschrift und Identität des finnischen Trainers ist deutlich erkennbar. Wie zeigt sich dies im Playbook Iisalos?

Iverson-Cuts als Einstieg

Mit Ähnlichkeiten zu dem in Crailsheim. Dort legte Tuomas Iisalo in der vergangenen Saison mit einem Point Guard ähnlichen Spielertyps, Trae Bell-Haynes, bereits den Fokus auf High Pick-and-Rolls. Und auch vor Bell-Haynes hatte Iisalo mit DeWayne Russell und Frank Turner Hochgeschwindigkeits-Guards den Schlüssel zur Offense in die Hände gelegt.

Wie bei Iisalos Amtszeit in Crailsheim sind auch in seiner Debütsaison in Bonn Iverson-Cuts als Einstiege in einige Spielzüge geblieben. Bei einem Iverson-Cut rotiert ein Offensivspieler von der einen zur anderen Spielfeldseite, meist auf Höhe der Freiwurf- oder Dreierlinie, und nutzt dabei einen oder zwei Cross-Screens.

Bei besagtem Gamewinner gegen Berlin startete Jeremy Morgan mit einem solchen Iverson-Cut. Tyson Ward, der als erstes einen Cross-Screen für Morgan gestellt hatte, folgte dem Flügelspieler. Dann machte sich Saulius Kulvietis, der zweite Blocksteller im Iverson-Einstieg, bereit, zu Jackson-Cartwright zu rotieren und einen hohen Ball-Screen zu stellen. Doch „PJC“ wartete erst gar nicht auf den Block, brach aus dem Spielzug aus und schnitt mit seiner puren Schnelligkeit durch die Berliner Defense.

Diese Aktion ist zu Beginn des folgenden Videos zu sehen, welches Ausstiege durch ein High-Pick-and-Roll nach dem Iverson-Cut zeigt.

In den letzten beiden Aktionen des Videos erfolgt der Ausstieg noch früher – indem die Iverson-Cutter Karsten Tadda und Raymar Morgan nach einem Curl den Ball an der Dreierlinie erhalten, Richtung Baseline antreten und den Kickout bzw. Layup folgen lassen.

Auf Taddas Offensivspiel in Bonn sollte man genauer blicken – muss aber ganz genau hinsehen, bevor Tadda den Ball schon wieder weitergegeben hat. Denn gerade der vermeintliche Verteidigungsspezialist zeigt unter Iisalo, welch starker (System-) Offensivspieler er ist – indem er mit seinen schnellen Kickout- und Swing-Pässen oder Catch-and-Drives die „0.5“-Offense verinnerlicht hat.

„Eine schnelle Entscheidung ist besser als eine richtige Entscheidung“

„0.5“-Offense kommt als Terminologie eigentlich von den San Antonio Spurs. Iisalo definiert diese im FIVE-Interview während seiner Zeit als Merlins-Trainer damit, „dass man sehr schnelle Entscheidungen treffen muss, um den Vorteil aufrechtzuerhalten: etwa 0,5 Sekunden, um zu werfen, zu ziehen oder den Vorteil an einen Teamkollegen weiterzugeben.“ Denn diesen kleinen Vorteil, den man sich verschafft hat, will man nicht aufgeben. „Es ist wie ein Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Rotationen der Defensive und den Entscheidungen sowie dem Spacing der Offensive.“

Daran feilt Iisalo im Training mit seiner Mannschaft exzessiv: „Für mich ist einer der größten Schlüssel im Training, so spezifisch wie möglich zu arbeiten und diese Situationen zu maximieren“, erklärt Iisalo. Vorteile für eine Offensive ergeben sich nach Closeouts der Defensive, darauf legt Iisalo auch den Fokus – in ganz speziellen Drills: So muss sich beispielsweise ein Verteidiger mit dem Rücken zum Ball aufstellen, der Ballhandler zieht daraufhin Richtung Korb. Oder alle fünf Verteidiger befinden sich in der Zone und laufen dann Closeouts. Eine Regel bei diesen Drills: „Wenn die Offensive stoppt, hat die Defensive gewonnen.“ So verwundert es auch nicht, wenn Iisalo in einer Ausgabe des „Slappin‘ Glass“-Podcasts im Oktober vergangenen Jahres sagt: „Eine schnelle Entscheidung ist besser als eine richtige Entscheidung.“

Zurück zum vorherigen Spielzug: Der Pass auf den Iverson-Cutter ist auch im weiteren Set vorgesehen. Wie bei der Aktion gegen Berlin angeschnitten, folgt der erste Blocksteller (meist der Power Forward) dem Flügelspieler. Dabei deutet der Vierer einen Ball-Screen nur an – statt ein Side Pick-and-Roll mit dem Zweier zu laufen, slippt der Vierer den Block und kann in guter Positionen am Zonenrand angespielt werden:

Als Tweener mag Tyson Ward auf der Vier bei weitem keine Mismatches forcieren, doch der Zweitjahresprofi hat bereits in seiner Debütsaison in Würzburg gezeigt, dass er durchaus nominelle Fünfer im Low-Post zu überraschen weiß. Ward mag derzeit noch bzw. weiterhin die größte Wundertüte im Bonner Kader sein: Denn der 24-Jährige ist vielleicht der vielseitigste Spieler, hat neben den angesprochen Post-Skills auch Ballhandler-Fähigkeiten, bringt in Iisalos Mannschaft eine wichtige Portion Athletik mit und hat mit seiner Armspannweite auch das Potential, mehrere Positionen zu verteidigen. Doch die Gratwanderung zwischen Genie und Wahnsinn mag gerade bei Ward am stärksten ausgeprägt sein. Doch im Saisonverlauf könnte der Forward noch zum größten X-Faktor avancieren.

Suchen die Bonner nicht aus dieser 2-4er Combo den Abschluss, gehen sie erneut zur 1-5er Paarung über. Der Flügelspieler bedient per Querpass den Center, dieser übergibt auf den primären Ballhandler – woraus direkt das Pick-and-Roll folgt. Mit dem Querpass ist der Einser zum Hand-Off angetreten, das verschafft ihm einen Schnelligkeitsvorteil. Nach dem Hand-Off wird der Center-Verteidiger mitunter gezwungen, beim Bonner Aufbauspieler auszuhelfen – und der Bonner Center ist in einer ersten Option nach dem Abrollen anspielbar.

Die Bonner haben noch eine andere Art des frühen Ausstiegs im Repertoire: Der Iverson-Cutter rotiert dann erst gar nicht zur anderen Seite, sondern macht einen Schritt zurück und drückt ab. In folgendem Video könnte Justin Gorham noch mehr zum Flare-Screen für Morgan gehen.

Diese Szene ist ein gutes Beispiel für Bonns frühen Abschlüsse, den Fokus auf Dreier und Jeremy Morgans Lizenz zum Schießen (8,3 FGA, bei aber nur 30,8% 3FG). Denn das Iisalo-Team sucht selbst im Schnellangriff sehr häufig den Abschluss von jenseits der 6,75 Meter, ganze 43,4 Prozent der Wurfversuche aus der Transition sind in den bisherigen 16 Pflichtspielen Dreier gewesen. Zum Vergleich: 13 Teams weisen bei all ihren Würfen aus dem Feld einen geringeren Anteil an Dreiern auf (bei Bonn steht der Dreieranteil bei 48,2 Prozent)!

Auch ohne Pick-and-Pop: Blocksteller als wichtige Option

Doch zurück zu den Iverson-Cuts: Diese Aktionen finden sich in den Playbooks der meisten Teams, auch der spezielle Spielzug Bonns, den sogar Iisalos Ex-Team, die HAKRO Merlins Crailsheim, laufen. Mit Bogdan Radosavljevic haben die Merlins, das weiß Iisalo nur zu gut, einen Center in den Reihen, der nach Short-Rolls (das kurze Abrollen um die Freiwurflinie herum) ein guter Passgeber ist.

Hierbei macht aktuell in Bonn auch Leon Kratzer eine ganz gute Figur, auch wenn seine 0,5 Assists pro Spiel das nicht vermuten lassen. Eigentlich mit Stärken im Low-Post ausgestattet, dahingehend in der vergangenen Saison unter Igor Jovovic und Will Voigt vergessen, ist Kratzer unter Iisalo der Umschwung gelungen. Nicht aber durch Post-ups, sondern durch sein Spiel ab Abroller, wo er nach dem Short-Roll den Ball am Laufen hält und auch das Auge für den Pass zum 45-Grad-Spot hat.

Die Center-Kombination aus Kratzer und Michael Kessens wurde vor Saisonstart auch von dieser Seite hinterfragt, da beide keine Komplimentärspieler sind: also keine Akteure mit unterschiedlichen Stärken sind, womit man seinen Gegner vor unterschiedliche Aufgaben stellen bzw. auf die Verteidigung des Gegners mit einer anderen Facette reagieren kann. Weder Kratzer noch Kessens agieren im Pick-and-Pop. Doch Iisalo hat es mit seiner Wette auf sein spezifisches System geschafft, dass dies nicht negativ ins Gewicht fällt. Im Gegenteil: Kratzer und Kessens, als rein deutsches Center-Duo, nimmt einen gehörigen Anteil am Bonner Erfolg ein: im System der High Pick-and-Rolls gute Blöcke stellen, effizient in der Zone abschließen und den Offensiv-Rebound attackieren. So überragt Kessens seit der Länderspielpause mit 1,17 Punkten pro Possession als Abroller.

Apropos Offensiv-Rebounds: Die Bonner überragten zur ersten Länderspielpause beim Offensiv-Rebounding, Grundlage dafür ist das „Tagging up“. So kaschiert das Team eine durchschnittliche Feldwurfquote von 46,4 Prozent und eine unterdurchschnittliche Dreierquote von 33,0 Prozent. Pro Partie generieren die Bonner 6,4 Wurfversuche aus dem Feld mehr als ihre Gegner: der zweitbeste Wert hinter Ludwigsburg (+10,4), die mit ihren wenigen Ballverlusten und den vielen forcierten Turnovern immer noch König im Spiel der Wurfchancen sind.

So sehr Teams mit gleichen Spielzügen bzw. Elementen wie dem Iverson-Cut als Einstieg aufwarten, so sehr überzeugen die Bonner – weil sie ihre „0.5“-Offense durch Slippen oder dem schnellen Abrollen nach dem Hand-Off verinnerlicht haben, konstant Closeouts attackieren und dabei nicht viel Zeit verlieren (aber sich auch mal Zeit nehmen und trotz Ablauf der 24 Sekunden nicht in Panik verlieren).

Damit stellen die Offensivabschlüsse des Spot-ups, der Ballhandler sowie Abroller aus dem Pick-and-Roll die drei häufigsten Play-Types bei Bonn. Bemerkenswert ist, dass 12,7 Prozent der Abschlüsse auf die Abroller entfallen – heutzutage ein relativer hoher Wert. Zumal die Bonner hierbei kaum ins Pick-and-Pop übergehen, erst recht durch Kalnietis‘ Verletzungspause. Nur 18,7 Prozent der Wurfversuche der Blocksteller sind bisher Dreier gewesen, oftmals agierten dabei Morgan, Tadda und Skyler Bowlin mit Ghost-Screens (dazu später mehr).

Für diese Statistiken haben wir alle Offensivaktionen aller bisherigen Pflichtspiele Bonns gesichtet und ausgewertet. 1.499 Possessions.

Off-Screen in Floppy- und BLOB-Plays

So sehr die Bonner also über ein hohes Pick-and-Roll und dem Block am Ball gehen, so wenig sind ballferne Blöcke Teil Iisalos Set-Plays (nur 2,6% Freq, am seltensten genutzte Abschlussart mit Post-ups und Hand-Offs). Eine Ausnahme ist folgendes Floppy-Set. Dabei kommen beide Flügelspieler nach einem Pin-Down der Big Men zum Flügel heraus, davor stellt häufig ein Flügelspieler einen Cross-Screen in der Zone für den anderen Flügelspieler. Meist ist Jeremy Morgan der designierte Schütze.

Beim Großteil der aufgeführten Aktionen des Videos kommt jene Wurfoption gar nicht zum Abschluss. Jedoch zeigen die Bonner hierbei, warum sie ein so effizientes Offensivteam sind: weil sie gut reagieren, wenn die Defense ihre erste Option wegnimmt, und zweite oder dritte Optionen finden. Hauptsache, die Entscheidungen werden schnell getroffen.

Zwei Spielzüge stechen beim Einwurf an der Baseline heraus, einer mit ballfernen Blöcken. Dabei stellt ein Flügelspieler in der Zone einen Back-Screen für den Vierer, der zum Korb cuttet und in einer ersten Option direkt am Korb abschließen kann. Der Blocksteller rotiert daraufhin in die Ecke und nutzt einen Flare-Screen des Centers. Man spricht hierbei von einer „Screen the Screener“-Aktion.

Beim anderen BLOB-Play stellen sich die Bonner genauso auf, steigen mit einem Back-Screen ein – forcieren aber einen früheren Abschluss. Der Einwerfer passt auf den Center, bleibt auf der ballstarken Seite und erhält den Ball per Hand-Off zurück, um auf den Eckendreier zu gehen. Ein Spielzug, den man in der BBL als erstes bei Aitos Mannschaft ALBA BERLIN gesehen haben dürfte.

Ghost-Screens als wiederkehrendes Element

Was Screens betrifft, ist die Bonner Offensive spannend zu verfolgen. Denn der Trend von Guards gestellten Ball-Screens und sogenannten Ghost-Screens ist in Iisalos System in dieser Saison fest verankert.

Unter einem Ghost-Screen versteht man eine Aktion eines ballfernen Spielers, der zum Ballhandler rotiert und andeutet, dass er einen Ball-Screen stellt. Doch statt diesen zu stellen, rotiert jener ballferne Spieler weiter und ist im besten Fall durch eine etwaige Verwirrung oder Miskommunikation der Verteidigung offen für einen Wurf.

Folgendes Video zeigt, wie die Bonner diese Ghost-Screens auch gerne bei vermeintlichen Mismatches nutzen, wenn die gegnerische Verteidigung mit dem Big Man auf den Ballhandler geswitcht hat. Diese Aktionen sind relativ häufig im vierten Viertel zu beobachten, wenn Verteidigungen vermehrt die Gegenspieler übergeben.

Der langjährige und mit Taktikexpertise ausgestattete BBL-Trainer Björn Harmsen hat bereits im basketball.de-Interview im März 2018 über Ball-Screens von kleinen Spielern philosophiert. „Wenn der Spieler, der den Block stellt, ein sehr guter Schütze ist, musst du für die Switch-Situation unglaublich gut kommunizieren“, machte Harmsen deutlich. Der damalige Jenaer Headcoach erklärte, dass Andrea Trinchieri den direkten Block zwischen zwei kleinen Spielern in die Liga gebracht habe. „Etwa 90 Prozent haben die ,Klein/Klein‘-Aktion in irgendeinem Spielzug als Element.“

Mag sich Harmsen noch mehr auf wirklich gestellte Ball-Screens von kleinen Spielern bezogen haben, sind die Ghost-Screens mittlerweile über die ganze Liga verteilt zu beobachten. Die Bonner setzen diese nicht nur als Element nach Switches, sondern auch innerhalb von Spielzügen ein. Letztlich ist der Übergang von wirklich gestelltem Ball-Screen und nur angedeutetem Ghost-Screen fließend.

In folgendem Spielzug nutzt ein Flügelspieler, meist der Shooting Guard, zwei Pin-Downs, um zum Ballhandler zu rotieren. Hier folgt der Ghost-Screen oder auch direkt gestellte Ball-Screen. Der Spieler, der den letzten off-Ball-Screen zum Einstieg gestellt hat, dreht sich und stellt hinter dem nach oben rotierenden Guard einen Ball-Screen. So kann der Ballhandler gegebenenfalls gleich zwei Ball-Screens hintereinander nutzen (Staggered Pick-and-Roll). Das Video zeigt, wieviele Optionen sich hieraus für Bonn ergeben (Abroller in der Zone; Ghost-Screener als Wurfoption; Ballhandler forciert Switch).

In einem ähnlichen Spielzug kommt der Shooting Guard nicht per Staggered-Pin-Down zum Ballhandler, sondern nutzt nur einen Pin-Down. Die Seite, auf der dieser Off-Ball-Screen gestellt wird, kann nun ganz offen für den Ballhandler sein, um zu attackieren – weil eben nicht ein weiterer Offensivspiel nach ballfernem Block – und damit auch dessen Verteidiger – im Raum steht. So kommt Parker Jackson-Cartwright dank seiner Geschwindigkeit bei diesem Spielzug immer wieder in die Zone, um selbst am Ring abzuschließen oder diesen Paint Touches auf seine Mitspieler abzulegen.

Bei einer anderen Option stellt der Shooting Guard, der zum Einstieg den Pin-Down nutzt, keinen Block. Stattdessen erhält er nach dem Cut nach oben den Ball, gibt ihn per Hand-Off zurück, rotiert auf den ballfernen Flügel und macht Platz für ein Pick-and-Roll.

PJC for MVP?

In den meisten Set-Plays wird deutlich, wie sehr (am Ende) ein High Pick-and-Roll im Zentrum steht – und damit auch Parker Jackson-Cartwright. Was der 1,80-Meter-Wirbelwind in den Partien gegen Berlin auf das Parkett gezaubert hat, findet sich als Signature-Moves in den Highlight-Archiven von Liga und TV-Sender.

Mit seinen Crossover-Dribblings und step-back-Aktionen hat „PJC“ schon für so einige Anklebreaker gesorgt. Dadurch verschafft sich der Guard häufig viel Platz, um den Pullup-Dreier zu nehmen. Das muss Jackson-Cartwright auch, denn seine Wurfbewegung kommt mitunter etwas langsam daher. So trifft „PJC“ bislang nur 28,6 Prozent seiner Dreier. Das liegt übrigens nicht daran, dass er selten ballabseits eingesetzt wird und so zu wenigen Möglichkeiten aus dem Spot-up kommt. Im Catch-and-Shoot – eigentlich eine effizientere Option als Pull-ups – trifft „PJC“ nur 27,3 Prozent seiner Dreier.

Gefährlicher ist er bei Drives: Hedgt der gegnerische Big Man, tritt „PJC“ häufig im richtigen Moment an, um vorbeizuziehen. Zudem hat er Dribblings mit Verzögerungen im Repertoire, um in der Zone den Floater abzulegen, nach einem Spin-Move zum Korbleger zu gehen oder per hart gespielteme Kickout-Pass die Weakside-Schützen in Szene zu setzen.

„Parker Jackson-Cartwright spielt eine sehr große Rolle, wie die Point Guards in unserem System es immer tun“, erklärte Iisalo bei Magenta Sport zu Saisonbeginn. Parallelen zu Trae Bell-Haynes sind ersichtlich, wobei dieser mehr Freiwürfe generiert hat, „PJC“ dahingehend häufiger auf den Dreier geht.

„Er besitzt das große Talent, die Paint Touches zu finden, und ist dabei unglaublich schnell – vielleicht der schnellste Point Guard, den wir bisher hatten. Er kann aus diesen Situationen auch sehr gut die Kickout-Pässe spielen“, führte Iisalo aus. Da die Bonner per Swing den Ball gut laufen lassen, wäre bei Jackson-Cartwright die Auswertung von Hockey-Assists interessant – also der Pass vor dem Assist. Denn oftmals ist es der Guard, der für die erste Rotation der Verteidigung sorgt und so die Offensive initiiert.

Mit 16,8 Punkten pro Spiel stellt „PJC“ aktuell den fünftbesten Scorer der Liga, mit 7,8 Assists führt er sogar die Liga an (Matt Farrell und Jabril Durham ausgenommen, die zu wenige Partien absolviert haben). Zieht man zudem seine 3,4 Ballverluste heran, zeigt sich dahingehend auch, welche Offensivlast er schultern muss. Denn sein Backup Skyler Bowlin ist weniger der traditionelle Einser, der die Defense seziert (dafür ein ungemein starker Schütze ballabseits, was sich auch in der Crunchtime zeigt) – was im Bonner System der Closeout-Attacke aber so wichtig ist. Denn dadurch wird der erste Vorteil generiert.

So sehr „PJC“ dadurch sein MVP-Anspruch zementiert, so sehr muss man im Saisonverlauf auch beobachten, wie er bei immer mehr Minuten konstant die Offensive zu schultern weiß. Schließlich werden sich gegnerische Teams ihr Defensivkonzept auf „PJC“ zurechtschustern – und ihn auch vor neue Herausforderungen stellen. Beispielsweise versuchten es Chemnitz und Würzburg phasenweise mit Jonas Richter respektive Desi Rodriguez, mit Größe gegen den Bonner Guard zu verteidigen.

Die Komplexität der Simplizität

Tuomas Iisalo hat den Zauber mit von den Merlins an den Hardtberg gebracht. Schrieben die Crailsheimer unter seiner Führung in den vergangenen beiden Jahren eine Cinderella-Story, hat Iisalo mit Bonn ein Team mit eigentlich besserer Infrastruktur, aber zuletzt enttäuschenden Jahren, wieder auf Kurs gebracht – und dabei auf Altbewährtes zurückgegriffen.

Über seine Philosophie erklärte Iisalo im FIVE-Interview dieses Jahres mit Blick über den Korbrand hinaus: „Wie sagte Jack White von den White Stripes: ,Restriktionen sind der Schlüssel für Kreativität.‘ Deswegen hatten sie ja drei Instrumente, drei Farben – alles war dreimal vorhanden. Sobald du Restriktionen hast, kannst du innerhalb dieser Grenzen arbeiten. Wenn man auf unsere Offensive blickt: Wir machen alles aus dem Pick-and-Roll heraus. Daraus musst du Lösungen finden, das ist eine unsere Restriktionen.“

Diese Grenzen ziehe Iisalo auch bei der Spielerrekrutierung, bei der er sein System über die individuellen Skills eines Spielers stellt. „Es kann sein, dass sehr gute Spieler nicht auf unserer Liste stehen, weil bestimmte Parameter bei ihnen nicht zutreffen.“

Die Telekom Baskets Bonn laufen im Grunde nur High Pick-and-Rolls? Es ist die Komplexität in der Simplizität, mit der das Team von Tuomas Iisalo offensiv so effizient auftritt. Denn beim Basketball als Spiel der Closeouts sind schnelle Entscheidungen so relevant, um sich einen Vorteil zu erarbeiten und diesen aufrechtzuerhalten. Und dort setzt Iisalo übrigens auch an, wenn er seine Arbeit bei einem Team beginnt.

Im „Slappin‘ Glass“-Podcast hat Iisalo erklärt, auf das Konzept des „Reverse Engineering“ zurückzugreifen, was beispielsweise im Maschinenbau Anwendung findet. Im Training beginnt Iisalo demnach mit dem Ende eines Ballbesitzes in der Offensive, also bei „Closeout-Entscheidungen und Penetration-Automatismen – das ist das Endprodukt einer guten Offensive“. Danach gehe es an die „Actions“ und das Spacing samt verschiedener Pick-and-Roll-Arten. Erst danach zu Einstiegen von Spielzügen, „wie etwa ein 4-2 Pin-Down zu einer Guard-Guard- oder einer Pass-Hand-Off-Aktion, einem Iverson- oder Diamond-Element.“

„Ein Pianist rennt ja auch nicht um sein Klavier, um sich für seine Session aufzuwärmen“

Trae Bell-Haynes, Iisalos rechte Offensivhand der vergangenen Saison, sagte im basketball.de-Podcast im April 2021, dass er noch unter keinem Trainer gespielt habe, der so spezifisch auf das Spiel bezogene Drills laufen lasse: „Im Training gibt es keine verlorene Zeit, jeder Drill hat eine bestimmte Funktion und bringt dich in spielähnliche Situationen, auch wenn es sich um kein Fünf-gegen-Fünf handelt.“

Iisalo erklärte im „Slappin‘ Glass“-Podcast, dass es deswegen bei ihm im Training auch kein Warmup gebe. Dabei zitierte der Basketballcoach den Fußballtrainer Jose Mourinho mit den Worten: „Ein Pianist rennt ja auch nicht um sein Klavier, um sich für seine Session aufzuwärmen…“

Nicht nur warm, sondern außerordentlich heiß waren die Telekom Baskets Bonn zum Ende des Jahres 2021: Mit neun Siegen in Folge (samt Punktedifferenz von 13,3 Zählern, aber kaum gegen direkte Konkurrenz) verteidigten die Rheinländer ihre Tabellenführung, ehe es in Crailsheim – ausgerechnet bei Iisalos Rückkehr an alte Wirkungsstätte – die erste Niederlage seit dem 24. Oktober 2021 setzte.

Aktuell befinden sich die Bonner auf einer Serie, die als Standortbestimmung herhalten mag: Nach den Partien in Crailsheim und gegen Hamburg stehen Duelle mit München, Bamberg, Oldenburg und Berlin an, viele (eigentliche) Playoff-Kaliber und sogar Meisterschaftsanwärter.

Mit der klaren Hierarchie innerhalb des Systems und Parker Jackson-Cartwright als Fixpunkt der Offensive mögen die Bonner auf dem Papier leicht auszurechnen sind, doch bisher zeigt sich die hervorragende Ausführung des Systems auf dem Parkett erfolgversprechend. Mag das vermeintliche Fehlen von Komplementärspielern irgendwann doch mal negativ ins Gewicht fallen? Spätestens in einer Playoff-Serie, in der sich Teams noch konzentrierter aufeinander vorbereiten? Doch wie sagte Iisalo nach der Niederlage in Crailsheim im TV-Interview: „Wir gewinnen, oder wir lernen etwas.“

Derweil hat Iisalo auch das Potential, sein System zu verfeinern – durch Neuzugang Javontae Hawkins. Der Flügelspieler hatte im 2019/20er Team in Crailsheim eine besondere Rolle eingenommen – als Spieler auf der Drei war er der designierte Postup-Spieler. Solche Aktionen nehmen im Bonner System kaum eine Rolle ein, und sie gehören auch zu den ineffizientesten Abschlüssen im Basketball. Hawkins bringt aber Mismatch-Potential mit. Vorstellbar wäre es, dass Hawkins in einem Iverson-Cut als Small Forward die Position des Vierers einnimmt und nach einem Slippen von der Seite in den Low-Post rotiert.

Wer keine Zeit im Training verlieren will, der möchte seine Spieler fordern – um sie zu fördern, im Sinne von: im Spiel auf alles vorbereitet zu sein. So stellte Bell-Haynes auch die „Intensität“ heraus, die Iisalo in Trainingseinheiten einfordert: „Jeder Spieler wird dir sagen, dass er jedes Mal so hart wie möglich spielt. Aber Coach Iisalo leistet eine großartige Arbeit darin, Folgendes aufzuschlüsseln: was du selbst denkst, was dein Bestes gewesen ist. Und dich zu pushen, an ein noch höheres Level an Einsatz zu kommen. Ich glaube, das werde ich den Rest meiner Karriere nicht vergessen“, erklärte Bell-Haynes im basketball.de-Podcast, wie sehr Iisalo ihn nachhaltig beeinflusst habe.

Im „Slappin‘ Glass“-Podcast geht Iisalo darauf näher ein: „Technisch, taktisch, physisch und psychisch pushen wir die Spieler gerne, bis Fehler passieren. Im Grunde werfen wir Universalschraubenschlüssel in die Execution unserer Mannschaft“, sagt Iisalo dort. „Sobald die Spieler etwas beherrschen, verändern wir die Spielregeln oder legen die Messlatte höher – um Anstrengung, Kampf herbeizuführen. Das ist der Schlüssel. Das ist aus dem großartigen Buch ,Range‘ von David Epstein: Dort schreibt er darüber, wie Menschen glauben, der Schlüssel für Entwicklung sei Wiederholung – dabei ist es in Wirklichkeit das Abmühen. […] Dafür benötigt man Fingerspitzengefühl.“ Und das hat Iisalo auch bei den Telekom Baskets Bonn bewiesen. Vom Training zum Spiel ist seine Handschrift ersichtlich. Eindrücklich.


Alle Erweiterten Statistiken von Manuel Baraniak; Stand der Stats: 9. Januar 2022

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